EXIT
oder:
Leben und Sterben lassen
von Günter Schweigard
Gestern
Abend bekam ich eine E-Mail von meinem Freund, der mir gegenüber
schon vor längerer Zeit geäußert hatte, nicht mehr leben
zu wollen. Die näheren Umstände, warum er des Lebens überdrüssig
geworden war, - obwohl bei bester Gesundheit und auch finanziell alle
Tücher im Trockenen - tun hier nichts zur Sache. Vielmehr ist es
mir wichtig, zu beschreiben, weshalb mein Freund sich veranlasst sah,
mir per E-Mail mitzuteilen, er wolle nun doch nicht, wie vereinbart,
meine Dienste als Sterbehelfer in Anspruch nehmen, und auch ich solle
ihn von seinem Versprechen entbinden, mir, im Bedarfsfalle, einen sauber
gemixten Giftcocktail zu reichen. Man kann sich denken, wie mich diese
Nachricht umgehauen hat. Immerhin habe ich nun auch schon die Fünfzig
erreicht und du weiß ja nie, wie lange du noch Lust hast, zu leben,
oder ob dich eine schwere Krankheit erwischt und du daraufhin im Sterben
liegst und denkst: Jetzt hab ich keine Lust mehr! Nun, das Sterben ist
eigentlich ganz einfach, wenn du einen Helfer hast, auf den du dich
verlassen kannst. Wenn du aber alleine da stehst, so wie ich jetzt und
du im Spiegel dein Gesicht anschaust und du genau weißt, dass
du den Fleck auf der linken Backe mal überprüfen lassen solltest,
weil, mit Hautveränderungen ist nicht zu spaßen, dann machst
du dir schon Vorhaltungen, weil du zu Lebzeiten nicht genügend
eifrig mit den Menschen kommuniziert hast. Ich kann sagen: Der einzige
Grund, warum ich überhaupt mit den Menschen kommuniziert habe,
ist ja eben der gewesen, damit ich am Ende, wenn ich keine Lust mehr
habe, zumindest noch einen Helfer habe, der mir meinen Giftcocktail
mixen kann - ansonsten wäre ich auch sehr gut alleine zurecht gekommen.
In meinem Freund dachte ich also solch einen Helfer gefunden zu haben.
Wir hatten sogar einen mündlichen Vertrag geschlossen. Ist das
heutzutage denn gar nichts mehr wert, solch eine Abmachung? Ich meine,
da geht es ja schließlich um etwas. Ehen werden ja auch zuhauf
geschlossen (vor den Augen des Herrn) und man sagt, dass man beieinander
bleiben wird, bis der Ehemann stirbt, und die Frau sich dann noch einige
Jahre (oder Jahrzehnte) allein ein schönes Leben machen kann. Wenn
aber die Ehe vorzeitig aufgelöst werden muss - aus Gründen,
die ich hier gar nicht weiter ausführen will - dann wird man ja
als Mann auch zur Verantwortung gezogen. Da ist die Rechtsprechung doch
eindeutig. Nur wenn dir einer verspricht, dass er dir im Bedarfsfalle
hinüberhelfen wird und er sich dann, einfach so, »out
of the blue«, dahingehend äußert, dass er dich
jetzt doch nicht mehr, wie eigentlich vereinbart, mit einem Giftcocktail
um die Ecke bringen könne, dann stehst du in der Sache Sterbehilfe
völlig allein da. Da hilft dir die Rechtsprechung auch nicht weiter.
Da kannst du dann höchstens in die Schweiz fahren - was du dir
natürlich nicht leisten kannst. Michel Houellebecq (der von »Karte
und Gebiet«) hat sich das kürzlich mal durchgerechnet
und er ist darauf gekommen, dass, wenn du dich in der Schweiz in einer
Sterbeklinik um die Ecke bringen lässt, es vergleichsweise soviel
kostet, dass du mit diesem Geld auch locker einhundert Huren bezahlen
könntest und ob das so schön ist, in der Schweiz zu sterben,
weißt du ja auch nicht. Gut, du kriegst bestimmt noch mal ein
Stück deines Lieblingskuchens. Du gehst noch mal auf das fremde
Klo - weil man dir nahe gelegt hat, es zu tun. Den Klodeckel versiegelt
eine Papierschleife »Sanitary Safety Control«. Und
noch mal Händewaschen! Aber wieso Doppelwaschbecken? Es gibt auch
Paare, welche gemeinsam diesen Weg wählen, sagt man dir abschließend,
vor es zur Sache geht - in bester Sokrates-Manier. Alles in allem keine
allzu erbauliche Vorstellung vom eigenen Tod!
Ich gebe ja der Kirche die Schuld daran, dass ich nun keinen Helfer
mehr habe. Hätten sie nicht diesen Pater in diese Talksendung geschickt,
die mein Freund sich angeschaut hat, wäre überhaupt nichts
passiert und wir hätten uns auch weiterhin aufeinander verlassen
können. Der Pater hat ja den Fernsehzusehern regelrecht Angst gemacht,
weil er einem Sterbehelfer in der Talkrunde gesagt hat, dass das Mord
sei, was er da praktiziert und dass es nicht in Ordnung sei, jemanden
- auch, wenn dieser das ausdrücklich wünsche - mit einem Giftcocktail
in die ewigen Jagdgründe zu befördern. Ja gerade zu feige
sei dies. Ob er denn auch Sterbehilfe leisten würde, wenn er denen,
die keine Lust mehr haben zu leben, mit einer Rasierklinge die Pulsadern
aufschneiden müsste, hat er den Sterbehelfer gefragt und dabei
leicht süffisant in seine Kutte hinein gelächelt. Da sei es
ihm eiskalt geworden, hat mein Freund in seiner E-Mail an mich geschrieben
und da hat der Pater ihn schon gehabt. Damit hatte ich nicht gerechnet,
dass ein Pater so was fragen könnte und mir damit solchen Schaden
zufügen würde, indem er mir meinen Sterbehelfer nimmt - obwohl
ich keiner Kirche angehöre.
Dank des Paters, der ihm die Augen geöffnet habe und dank seiner
daraufhin erfolgten Hinwendung zum Glauben, sei bei ihm in punkto Selbsterhaltungstrieb
wieder einiges - wenn auch noch nicht alles - auf dem richtigen Weg,
schrieb mein Freund in seiner E-Mail weiter. Seinen Urlaub für
die nächsten Jahre habe er auch schon geplant: Die Heilquellen
von Lourdes, wolle er nächstes Jahr im Frühling besuchen,
dann auch noch, wenn Zeit bleibt, zum Fatima-Schrein nach Portugal,
im Jahr darauf dann zum Schrein der Madonna von Guadeloupe, - Mexiko
sei immer eine Reise wert - dann, im dritten Jahr, nach gründlicher
Vorbereitung von Körper und Geist, nach Santiago de Compostela
(Jakobsweg), wobei er befürchte, dass ihn seine Familie dazu überreden
werde, zum Tauchen nach Bora Bora zu fliegen. Ich werde meinen Freund
wohl von seinem mir geleisteten Versprechen entbinden und ich hoffe,
dass ich noch lange genug leben werde, um gleichwertigen Ersatz für
ihn zu finden. Vielleicht rede ich mit seiner Schwester. Sie ist religiös
ungebunden, wie ich, und sie singt auch ganz leidlich, was mich vielleicht
auch wieder auf andere Gedanken bringt. Man soll ja auch nicht die ganze
Zeit ans Sterben denken, man vergisst darüber ja sonst völlig
zu leben und es ist ja so, dass, wenn ich bei meinem Freund, der ja
noch bis vor kurzem keine Lust mehr gehabt hatte, zu leben, Sterbehilfe
geleistet hätte, dann hätte ich ja auch niemanden gehabt,
der mich in die ewigen Jagdgründe hätte befördern können.
Auch
so ein Begriff: »Die ewigen Jagdgründe«
Ein
Jäger weidet seine Beute aus, die Gedärme liegen noch da (für
die Füchse), der Regen wäscht das Blut fort - »huntingseason«.
Da erhoffe ich mir doch eine bessere versorgungstechnische Lösung,
im Jenseits - mit weniger Aufwand; vielleicht so, wie es Erich Kästner
mal beschrieben hat, als er seine beiden Helden aus dem Roman »Der
35. Mai«, Onkel Ringelhuth und dessen Neffen Konrad, zusammen
mit dem Pferd Negro Kaballo, durch das Schlaraffenland hindurch gehen
ließ, und diese mit Erstaunen feststellten, dass es dort möglich
war, lediglich durch die Einnahme einer rosafarbenen Pille, in Kombination
mit einem entsprechenden farbigen Lichtbild, das man betrachtete, einen
kompletten Gänsebraten mit Bratäpfeln und Gurken zu bekommen.
Das nenne ich paradiesisch!
24.11.2012