zu
Bertolt Brecht, Leben des Galilei
Galileis
Zuversicht
von Jürgen Mick
Bertolt Brechts
Galilei sagt einmal: "Unglücklich das Land, das Helden
nötig hat." (Brecht 114) Vielleicht glaubte der echte
Galilei, dass sein Land einen Helden nötig gehabt hätte. Und
vielleicht bereute er tatsächlich zu Ende seines Lebens, so wie
Brecht es ihm in den Mund legt, dass er nicht stärker gewesen war,
und vielleicht hätte er sich gewünscht widerstanden zu haben,
als ihm von der Inquisition sein Widerruf abgepresst wurde.
Ohne Zugeständnis an die Glaubenskongregation hätte man ihn
in voller Konsequenz wohl verbrennen müssen, wie seinen Vorgänger
im Geiste Giordano Bruno. Die vermeintliche moralische Schwäche,
die seinem Widerruf anhaftet, wird in dem Theaterstück durch das
wiederholte Leitmotiv "Wer die Wahrheit nicht weiß, der
ist ein Dummkopf, wer die Wahrheit aber weiß und sie verleugnet
ist ein Verbrecher!" (Brecht 81) unausweichlich heraufbeschworen.
Galilei geht in der vierzehnten und vorletzten Szene, in Anwesenheit
seines einstigen Schülers Andrea, hart mit sich ins Gericht, und
auch wenn er alles daransetzte noch etwas Gutes für die Wissenschaft
zu leisten, will ihm das persönlich offenbar seine Schwäche
nicht aufwiegen. Obgleich es ihm in seinem Zwangsexil und unter den
strengen Augen der Kirche gelingt, noch heimlich seine Discorsi
zu vollenden. Er übergibt eine Abschrift an Andrea, mit dem Auftrag,
sie in einem freieren Land der Öffentlichkeit zugänglich zu
machen. Warum lässt Brecht Galilei im Greisenalter so hart mit
sich hadern? Hat er ihn doch kurz nach seiner Abschwörung die anfangs
zitierten Wort in den Mund gelegt. Worte aus dem Munde eines so vorausschauenden
Mannes, die bedeuten, dass ein Land, das so arm im Geiste ist, dass
es nur durch den Opfertod eines Märtyrers zur Vernunft gebracht
werden kann, kein Land sein kann, für das es lohnt zu streben.
Und dass das Sterben in keinem Falle mehr bewirkt, als die Gewalt in
ihrer Mächtigkeit zu bestärken. So muss man abweichend von
der vierzehnten Szene Brechts Galilei begreifen, als jemanden der dem
Heldentum ablehnend gegenüber stand. Auch Brecht war kein Märtyrer,
er schrieb Das Leben des Galilei 1938/39 während seines
selbstgewählten Exils in Dänemark. Auch er schleuste sein
Stück schließlich über die Schweiz (Uraufführung
1943 in Zürich) in den deutschsprachigen Raum, wo es erst 1955
zur ersten Aufführung in seinem Heimatland kommen konnte, nachdem
das Nationalsozialistische Gewaltregime abgedankt hatte. Weshalb also
die Resignation des greisen halbblinden Physikgenies?
Brechts Galilei
bestreitet, dass es sich um eine List gehandelt habe, dem Heliozentrischen
Weltbild abzuschwören, sondern beteuert, dass es angesichts der
Folterwerkzeuge der Inquisition aus reiner Angst vor dem körperlichen
Schmerz geschehen war. Als dem fleischlichen Wohl zugeneigter und dem
Leben gewogener Zeitgenosse unterschied er zwischen Wissenschaft und
Praxis, zwischen Theologie und Vernunft und vor allem zwischen Profession
und Leben. Er zog eine Trennlinie zwischen körperlichem Wohlbefinden
und öffentlicher Person, zwischen Leidenschaft und seiner Berufung,
zwischen Leben und theoretischem Wissen. Eine zuerst einmal egoistisch
und opportunistisch anmutende Haltung. Galileo verhält sich bei
näherem Hinsehen weniger in seiner individualistisch interpretierbaren
Manier modern, sondern vor allem in der Fähigkeit zur Differenzierung.
Bei aller offensichtlich zu bekämpfenden Ignoranz um ihn her, löste
er die Verschmelzung des Weltwissens mit seiner Person. Er schrieb Bücher
und wollte das Buch für sich selbstredend verstanden wissen. Dafür
wählte er auch als Schriftsprache seiner Werke erstmals das dem
Volk zugängliche umgangssprachliche Italienisch anstelle des üblichen
Latein. Was jeder damit Anfänge sei ihm überlassen.
Gegen ein konservatives
Weltbild anzukämpfen, war ihm nicht unbedeutend, dennoch schien
ihm dies der richtige Weg. Die Revolution müsse sich von unten
ereignen. Der Vernunft wird niemand entgehen, bis schließlich
die letzten Bastionen eines Aristotelischen Weltbildes ins wanken geraten
würden. Was wir einmal gesehen haben, lässt sich nicht wieder
aus der Welt schaffen. So konnte dieser Mann zu dem Schluss gekommen
sein, der Kampf gegen mit Gewalt verteidigte Vorurteile sei weder nötig,
noch hätte er etwas mit der Wissenschaft zu tun. Wenn er dem Glauben
sein Recht einräumte, indem er deren Glaubensbekenntnisse zitiert,
konnte seiner Ansicht nach dabei die Wissenschaft doch gar nicht verleugnet
werden! Sie haben nichts miteinander zu schaffen. Bei Brecht heißt
es: "Was hat meine Astronomie mit meiner Tochter zu tun? Die
Phasen der Venus ändern ihren Hintern nicht." (Brecht
88)
Man muss wissen,
dass auch in der Kirche zu dieser Zeit bereits ein halbes Jahrhundert
lang akzeptiert wurde, dass die neue Planetenkonstellation des Kopernikus
in der Praxis, wie der Schifffahrt, Anwendung fand. Was man von Galilei
verlangte, als man ihn aufforderte dessen Beweise zurückzuziehen,
ist auch im Auge des Klerus lediglich ein "Lippenbekenntnis"
(Mudry 11). Ein Akt der Unterwerfung, der Autorität beispielhaft
widerherstellen soll, nicht mehr und nicht weniger. An Galilei sollte
ein Exempel statuiert werden, um die Deutungshoheit des Heiligen Stuhls
nicht zu gefährden. Es ging schon lange nicht mehr um die Sache,
es ging um Verlustangst, und der berühmte Mathematiker aus Padua
zeigte angemessene Größe, für eine wirkungsvolle Kraftprobe.
Auch Brecht lässt seinen Papst wert darauf legen, dass man Galilei
nicht umbringt. Man kann es heute nicht mit Sicherheit sagen, ob er
hätte brennen müssen, wie Bruno noch dreiunddreißig
Jahre vor ihm. Am 22. Juni 1633 beugte Galilei sich jedenfalls der nackten
Gewalt. Und man kann behaupten, Galilei sei derart katholisch sozialisiert
gewesen, dass er es persönlich nicht übers Herz brachte, sich
der Kirche zu widersetzen. (Mudry 9) Aber ebensogut könnte ihm
eingeleuchtet haben, dass ein Deal besser ist für alle Beteiligten.
Ihm könnte gedämmert haben, oder gar bereits bewusst gewesen
sein, dass das eine, das Machtpolitische, nichts mit dem anderen, dem
Wirklichen, zu tun hat. Was ihm die Kirche möglicherweise sogar
nahelegte, wie es Brecht in der wissenschaftsaffinen Figur des Papst
Urban VIII. auch andeutet: "Das Alleräußerste ist,
dass man ihm die Instrumente zeigt." (Brecht 108)
Galilei sah deutlich, wie es sich selbst für die Kirche nicht als
sonderlich schwierig erwies, Praxis und Theologie auseinanderzudividieren.
Was konnte ein religiöses Lippenbekenntnis der Wissenschaft anhaben?
Es würde allenfalls die alten heroisch-sentimentalen Geister erzürnen,
die noch im mittelalterlichen Gestus an die eine Wahrheit glaubten.
Selbstredend wäre ihm persönlich eine Absegnung seiner Entdeckungen
von Seiten der Weltdeutungsinstanz sehr am Herzen gelegen, weil sich
für ihn alles zu einem kohärenten Weltbild gefügt hätte.
Sollte die Zeit dafür aber noch nicht reif sein, dann wäre
es auf jeden Fall kein Grund für die missglückte Kohärenz
und ein paar Ignoranten ein Leben zu vergeuden. Allemal besser wäre
es, wenn man noch ein paar Gedanken zu Papier brächte.
Galileo glaubte
bereits an die unbesiegbare Durchsetzungskraft der Vernunft. Und vor
allem verstand er es, zwischen Person und Erkenntnisförderung zu
unterscheiden. Schon bei seinen ersten Vorlesungen im Alter von vierundzwanzig
Jahren "über die Gestalt, Lage und Größe der
"Hölle" in Dantes "Göttlicher Komödie""
zeigt sich die rigoros differenzierte Haltung und Herangehensweise,
die in der Zukunft sowohl als professionell und wissenschaftlich Vorbildfunktion
haben würde. Er vollzog unberührt und ohne erkenntliche Anzeichen,
"ob er diese konkrete Darstellung überhaupt ernst nimmt"
eine Vermessung der Hölle auf Basis "des archimedischen Kegelschnittes
und der Dürerschen Proportionslehre". (Mudry 15)
Es fehlte Galilei
zum Schritt des Märtyrers eine innere Überzeugung. Jene noch
diffus wirkende und undifferenzierte Überzeugung nämlich,
die einen Giordano Bruno die physischen Schmerzen für wert befinden
ließen, um der Wahrheit ans Licht zu verhelfen. In Brechts literarischer
Figur Galileis spricht der "weltliche Messias der Vernunft"
(Hallet 70) wie Herbert Knust ihn betitelt, und eigentlich in strikterer
Unterscheidung ein Anti-Messias, der nicht mehr sterben muss, für
eine Erlösung von der Blindheit, die eine selbstverschuldete ist,
derjenigen, die die Augen verschlossen halten und den Schriften mehr
Glauben schenken, als ihren eigenen Augen. Will man unbedingt mit Brechts
literarischen Ambitionen in hohe Gefilde der Analogien mitziehen, könnte
die Abschwörung Galileis auch als ironischer Kommentar zu den letzten
Worten Jesu gelesen werden: "Denn sie wissen nicht, was sie
tun".
Den historischen
Galilei darf man sich durchaus als religiösen und gläubigen
Menschen seiner Zeit vorstellen. Umso erstaunlicher ist die Tatsache,
dass in Galileis Verständnis die Arbeit an erkenntnisfördernden
Gegenständen bereits nichts mehr mit der Person zu tun hat, die
sie vollzieht. Wenn er es für möglich hält, dass seine
Physik und sein Glaube miteinander vereinbar sind, dann nur in ihrer
strikten Differenz. Auf die insistierende Fragerei seines Freundes Sagredo,
wo dann Gott sei, schließt der literarische Galilei seine Antwort
mit den Worten: "die näheren Einzelheiten seien den Theologen
vorbehalten."
Ist es vielleicht
nur der greise Nachhall der Eitelkeit, die in der Retrospektive sich
gewünscht hätte, mehr bewirkt zu haben, den Brecht in der
vierzehnten Szene zu Wort kommen lässt? Ist es jener zornige Anwurf
von Vergeblichkeit, der im Angesicht der Vergänglichkeit und in
Anschauung eines jeden Lebenswerkes immer nur mit zu viel gewollt
quittiert werden kann. In des Astronomen Genre gesprochen: Die Welt
dreht sich langsamer als gedacht!
Nein. Galileis
Zuversicht will mit fortschreitender Blindheit bröckeln, aber in
erster Linie spricht hier Brecht selbst. Der notiert am 06.04.1944:
"g[alilei] gab den eigentlichen fortschritt preis, als er widerrief,
er ließ das volk im stich, die astronomie wurde wieder ein fach,
domäne der delehrten, unpolitisch, isoliert, ..." (Brecht
Arbeitsjournal) Brecht selbst unterschlägt radikal, dass die Astronomie
gerade in dem von ihm geschilderten Prozess nichts anderes als ein Politikum
ist. Die Karriere der Astronomie ist alle Zeit mit der Macht stark verbündet.
Brecht kappt brachial seine eigene Erzählung von der Deutungshoheit,
bei der es um nicht weniger geht, als die Macht über den Himmel.
Die Verquickung von Naturgesetzen und sozialen Machtansprüchen
ist Galilei - auch in Brechts Version bis dahin - ein Dorn im Auge.
Indem der Visionär Galilei ablässt von dem Anspruch auf die
eine Wahrheit, das heißt dem Anspruch von der Wissenschaft auf
ein Weltbild zu schließen und umgekehrt, erklärt er mit seiner
Unterschrift unter das Formschreiben der Inquisition das Weltbild als
kontingent. Der Autor Brecht will hierin unbedingt die Wurzel eines
Übel verorten, dass Disziplinen, die "Reinheit, das heißt
ihr Indifferenz zu der Produktionsweise, verhältnismäßig
ungestört [sich] entwickeln konnte." (Brecht, Gesammelte
Werke) Er übersieht, dass die Unumkehrbarkeit der Ausdifferenzierung,
gerade diejenigen in Erklärungsnot bringt, die seit jeher gewohnt
sind Erkenntnisse für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Gerade
diesen würde der Entzug der Ableitung höherer Wahrheiten ein
Rechtfertigungsdefizit bereiten. Und das dokumentiert der historische
Galilei, indem er ihnen schulterzuckend ihre Wahrheiten ihrer kontingenten
Form überlässt und auf diese Weise entmachtet.
Jedenfalls unterstrich
die historische Abschwörung deutlich die Überzeugung einer
notwendigen Unterscheidung von Glauben und Vernunft. Sie setzte für
seine Nachfolger das unüberhörbare Signal für eine differenzierte,
unpersönliche Arbeitsweise, die Unvoreingenommenheit jenseits der
Person ab sofort vorschrieb! Personenkult lag Galilei fern und Heldentum
langweilte ihn vermutlich. Ihm leuchtete ein, dass man nur zu Erkenntnis
und Vernunft kommen wird, wenn man damit aufhörte Autoritäten
und Heiligenfiguren zu installieren, weil diese höchstselbst dazu
"dienten" für zu lange Zeit wie Ikonen die Sicht auf
die Dinge zu verstellen. Und obendrein zu meist als Werkzeuge der Mächtigen
missbraucht werden. Mit Gewalt kann man schließlich nur von Menschen
alles erzwingen, aber Gewalt hat prinzipiell keinen Zugriff auf die
Natur-Tatsachen. "Die Winkelsumme im Dreieck kann nicht nach
den Bedürfnissen der Kurie abgeändert werden." (Brecht
78) Galileo Galilei war seiner Zeit nicht nur physikalisch ein Wegbereiter.
Auch moralisch war er weit in die Neuzeit vorausgeeilt. Ihm muss klar
geworden sein, dass die Einheit des Denkens der Vergangenheit angehört.
Seine Abschwörung mag er schweren Herzens unterschrieben haben,
aber mit einem Augenzwinkern der Siegesgewissheit in der Sache. "Neue
Wissenschaft, neue Moral" (Brecht 122) heißt es an bedeutender
Stelle auch bei Brecht. Dem Schüler Andrea, der seinen Meister
beschwört, lässt er sagen: "Auch auf dem Felde der
Ethik waren sie [Galilei] uns um Jahrhunderte voraus." (Brecht
122) Hätte der Skeptiker doch darauf vertraut.
14.05.14