Kinder
des Olymps
von Jürgen Mick
Mit
Wiedererlangung des Paradieses wäre die Geschichte des Menschen
zu Ende erzählt. Die dennoch unvermindert anhaltenden Unternehmungen
in dieser Sache spiegeln die ganze Paradoxie vermeintlicher Geborgenheit.
Die man vorerst vielleicht alltagspsychologisch vereinfacht formulieren
darf: Je mehr man sich geborgen fühlt (emotional, metaphysisch),
desto mehr entfernt man sich vom Leben. Die Tücken einer allumfassenden
Geborgenheitsempfindung liegen auf der Hand. Man vergisst die Reibungswiderstände,
man übersieht die Unzulänglichkeiten, man verdrängt die
Sorge. All die Irritationen, die einem den Auftrieb zuzusetzen vermögen,
der das Fliegen erlaubt. Die also dafür Sorge tragen, dass wir
überhaupt je in den Genuss einer Schwerelosigkeit gelangten. Ein
schwereloses Leben ist seither selbstredend ein opportunes Ziel, jedoch
nie geeignet ein Ende anzuvisieren. Immer wieder - so lehren es uns
seit Entstehung der biblischen Texte alle gehörten Predigten -
muss man hernieder und den Staub und die Kälte auf der eigenen
Haut empfinden, zu erahnen, dass man etwas wollen kann. Andernfalls
straft uns, in einer Welt, die sich ihrer metaphysischen Fesseln entledigt
zu haben glaubt, zumindest die Evolution mit Degeneration.
Die Ersatzhandlungen, zur Linderung von Phantomschmerzen, resultierend
aus dem metaphysischen Verlust der vergangenen Jahrhunderte, füllen
Bände. Seitdem die Kirche am Katzentisch des Weltgeschehens Platz
genommen hat, wird alles gern genommen, was in der Attitüde der
Aufklärung, als "Ausweg" aus dem Dilemma der Haltlosigkeit
des Daseins daher kommt. Die großen Bewegungen des Nationalismus
starten zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihr Konkurrenzunternehmen mit
der Offerte des neuen Zielhafens Nation, um diejenigen einzusammeln,
die sich um-bekehrt glauben, aber Irritationen nicht leugnen können.
Die warnenden Worte Hölderlins von 1797 an diejenigen die den Staat
zur "Sittenschule" machen wollen, geflissentlich überhört:
"Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn
der Mensch zu seinem Himmel machen wollte."(1) Obgleich die
Moderne künstlerisch-kulturell und geisteswissenschaftlich bereits
am Übergang zum 20. Jahrhundert in voller Ausformulierung bereit
steht, und nur darauf drängt sich in Gänze zu entfalten, konnte
nicht verhindert werden, dass der grausamste Schritt nationalistischer
Verblendung sich erst noch ereignen sollte. Die Welt wird Zeuge des
erneuten Aufplatzens, der endlos vor sich hin eiternden Wunde metaphysischer
Entwurzelung. Man ersehnt unvermindert die "heilige äußerste
Sphäre, das Himmelsgewölbe, das sich infolge der großen
kosmologischen Wende des 16. Jahrhunderts in nichts aufgelöst hatte
",
wie Sloterdijk feststellt.(2) Das entstandene Defizit scheint offensichtlich
vernunfttechnisch nicht zu kompensieren zu sein. Alles und jedermann,
der verspricht, uns von der Haltlosigkeit zu befreien, wird willkommen
geheißen. Daran kann man rückblickend die Zuverlässigkeit
würdigen, mit der katholizistischer Überbau für Millennien
für einen heilsbringenden Rahmen- und Sphärenbau sorgte, dessen
ordnende Wirkung gesellschaftlich, ebenso wie die metaphysisch, psychische
Absicherung nicht hoch genug einzustufen sind.
Berührt von der Tatsache "Gott ist todt"(3) sind
offenbar fundamentale, psychische Bedürfnisse des Einzelnen ebenso,
wie die gesellschaftliche Ordnung. Nach stürmischen Zeiten enthusiastischen
Aufbruchs und revolutionärer Aufklärung ist man der Bildungsanstrengungen
und Selbstformungsprozeduren doch irgendwann müde geworden, die
erforderlich sind ein brauchbares Fundament zu gießen, die Lage
der Haltlosigkeit durchzustehen. Nicht zuletzt wegen dem spontanen Erfolg
in Sachen Wohlstand und Lebenszeitgewinn auf neuerschlossenen Gebieten,
dürfen Selbstbildungsanstrengungen per se mittlerweile ungestraft
als eitle Zeitvergeudung verspottet werden. Unterstützt durch unerwartete
technische und biologische Errungenschaften wurde leichtsinnig und voreilig
als abgeschlossen eingestuft, was mitnichten abgeschlossen werden kann:
Aufgeklärtheit ist ein Projekt der Vernunft und daher nicht "vererbbar".
Es ist in keiner Weise übertragbar und muss jeweils neu von jeder
Generation als Projekt bearbeitet werden. Umso zurückhaltender
sollte der Einfluss unseres Stammhirns verleugnet und unterschätzt
werden. Wer je die Einflussnahme der Emotionen versucht hat ad acta
zu legen, begeht bekanntermaßen einen tödlichen Fehler.
Die Kinder des Olymps finden sich in keinem festen Stand wieder. Die
Freiheit ist brüchig und die Sorge trübt das unmittelbare
Glück. Das Dilemma sich zu mühen, ohne sich augenblicklich
die Stimmung zu verderben will nicht einleuchten. Beim Anklang der dämlichen
Parabel von der Vertreibung aus dem Paradies stopfte man sich zu gerne
Wachs in die Ohren. Anstatt sich langfristig auf Aporien einzulassen,
führen die Kinder des Olymps lieber Stellvertreterkriege und verteidigen
intime Glaubensbekenntnisse mit unangemessener Schärfe. Wo mit
Überschreitung der Inkubationszeit die Symptome der Unsicherheit
zu Tage treten, wird unmittelbar mit Kompensation medikamentiert, anstatt
runterzufahren und auszukurieren. Es werden Substitute implementiert,
während man über Ursachen hinwegschweigt. Ersatzfamilien (Betriebe,
Firmen, Vereine), Ersatzreligionen (Sport, Wissenschaft, Technik), Ersatzbekenntnisse
(Prinzipien, Gesetze, Normen), Ersatzbefriedigungen (Sex, Spaß)
und Ersatzbetäubungen (Opium, LSD) dominieren nicht von ungefähr
das 20. Jahrhundert. Wir blicken bereits stolz zurück auf eine
Enzyklopädie der Ersatzstoffe und verabschieden uns vertrauensvoll
in die Entzugsanstalten der Metaphysik, während wir nicht müde
werden, uns selbst vollständige Aufgeklärtheit zu attestieren.
Über Unsicherheit tröstet man sich mit Pseudosicherheit hinweg:
Wissenschaft und Technik, Recht und Gesetz, Mathematik und Versicherungspolicen.
Dabei entfernen sich allmählich tatsächliche Methoden vom
realen Bedürfnis. Wir verkennen, dass wir - die Überlebenden
-, ohne metaphysische Prothesen kaum je so weit gekommen wären.
Auf wessen Kosten, muss vorläufig offen bleiben. Wir verweigern
uns der Erkenntnis von Haltlosigkeit mit der einzigartigen Hartnäckigkeit
von Suchtkranken. Und genau deshalb werden unsere Ersatzhandlungen immer
unabdingbarer. Der Einsatz von Ersatzdrogen wird irreversibler, die
Dosen immer höher. Auf zuverlässige Weise sieht man sich im
Stande die Reflexion vom Leib zu halten. Zu Risiken und Nebenwirkungen
fragen sie ihr Gewissen. Die Betäubung erlaubt es, dem rastlos
ratternden Denkapparat von Zeit zu Zeit nicht mehr zuhören zu müssen.
Hinter Pseudorealitätenverschanzt ähnelt der Aufklärungsprozess
erstaunlich den spirituellen Mechanismen eines mittelalterlichen Katholizismus.
Einst den Religionen als verpönte Praktiken angelastet, sehen wir
uns mit ihren modernen Wiederbelebungen konfrontiert. Wir ahmen die
Lehren dogmatischer Überzeugungen (alternativlos und fernab jeder
Diskursoption), den Warenfetischismus (von Reliquienqualität),
den Symbolismus (wie nach messianischer Grablegung) und die Verherrlichung
(von eschatologischer Erwartungstiefe) detailgetreu nach. Ungeschickt
nur, dass in der kapitalistisch-materialistischen Variante des Messianismus
die Absicherung auf ganz realen, physischen Gegebenheiten basiert.
Die Kinder des Olymps sind verdammt sich einzureden, das Paradies sei
bereits auf sie gekommen. Dies zeitigt einen ganzen Hort von Nachteilen
gegenüber früheren Geborgenheitsstrategien. Was man einst
in weiser Voraussicht als Seele vom Körper schied, ist ja nun bis
in die Verdammnis in demselben eingekerkert und obendrein im Hier und
Jetzt verankert. Mit Einlösung von Heilsversprechen ist noch zu
Lebzeiten zu rechnen und die vordringliche Sorge gilt dem Körper
und den mit ihm verbundenen Befriedigungen. In letzter Konsequenz heißt
dies (psychologisch): Materielle Verluste können wir als tiefste
Verstörung erfahren. Mit einer Nachhaltigkeit, wie wir sie nur
von religiösem Fanatismus kennen.
Im "Krieg der Immunsysteme", um noch einmal mit Sloterdijk
zu sprechen, locken alle Wegweisen mit dem Paradies, gleichzeitig wird
jedermann ein Fall für die "Aufklärungswirtschaft:
der freie Markt der Kränkungen und die freie Wahl des behandelnden
Illusionisten."(2) Bei all der Selbstverständlichkeit
mit der wir Nietzsches "Gott ist todt!" abnicken, haben wir,
wie Peter Sloterdijk anmahnt, den Nachsatz unterschlagen. Nietzsche
lässt den tollen Menschen fortfahren: "Gott bleibt todt!"
(3) Und es ist auch richtig, dass idealerweise das "Leben nach
dem Tod Gottes resultiert im Experiment des Erkennenden" (2)
kulminiert. Sollte man sich dahingehend nicht langsam mit der Möglichkeit
eines Irrtums anfreunden? Wäre es jetzt an der Zeit einschränkend
hinzuzufügen: Gott ist tot! Doch Gott bleibt nie tot! Weil wir
in der Not vorzugsweise vakante Stellen des Olymps selbst in Besitz
nehmen. Man musste ja gezwungener Maßen in den Olymp umziehen,
bzw. wieder einziehen, da nur dort schließlich dafür Sorge
getragen werden kann, dass man ausreichend Planstellen zur Verfügung
haben würde.
Spöttisch nannte man im 19. Jahrhundert die oberen, billigen Ränge
in den Theatern als Olymp. Die am weitesten von der Bühne entfernten
und vor allem von der feinen Gesellschaft separierten Plätze waren
dem mittellose Publikum vorbehalten. Ein ebenso sozialer, wie diskriminierender
Akt. Mittels getrennten Eingangs war der Distanz gebührend Rechnung
getragen. Beinahe, bemängelte doch der damals berühmte Schauspieler
und Schriftsteller dieser Zeit Friedrich Kaiser: "Oben im Olymp
sah man Leute, welche sich freilich wenig Zwang anthaten, und sich's
bei drückender Hitze in Hemdsärmeln bequem machten; in den
Zwischenakten ertönten in den Höhen die Rufe: Frisches
Bier - geselchte Würstel!"(4) Zwangloses und ignorantes
Benehmen geht also schon damals unproblematisch mit dem Anspruch auf
Unterhaltung Hand in Hand. Nur im Unterschied dazu bevölkern die
Heutigen den Olymp ohne jede Ironie. Wie Jens Jessen in der aktuellen
Ausgabe der ZEIT herausstellt hegen wir mittlerweile die Liebe zum Vulgären
und driften möglicherweise durch die Ernennung des Proleten zum
Helden in trübes Fahrwasser: "Ein beachtliches Maß
an Intelektuellenhass, wenn nicht Kulturverachtung steckt in der populären
Feier des Vulgären und verbindet sie noch immer ungemütlich
mit der Geistfeindlichkeit, in der sich einst Bolschewisten und Faschisten
trafen."(5)
War es dem in metaphysische Sphären geborgenen Mensch geradezu
verpönt selbstsicher (2) zu sein, sind die Heutigen durch den Verlust
ihrer Aufgehobenheit regelrecht verdammt zur Selbstsicherheit. Wir heiligen
die Entbehrung als Erfolge metaphysischer Emanzipation, mit der Technik
ostentativer Affirmation prinzipieller Unvollkommenheit. So lässt
sich weiterhin Lebenszeit gewinnen, in exzessiver Lebensgier (dem Wohlstand
sei Dank). Was macht es schon, wenn das Experiment des Erkennenden abgeschrieben
wird. Und hat die Affirmation erst ihre zynische Konnotation vergessen,
tilgt sie in vertiefter Übung jede ironische Rückverankerung.
Sie erweist sich gesellschaftlich als erfolgreiche Kommunikationsfigur
und erobert sich auf diese Weise Naivität zurück. Unbemerkt
verzeichnet sie auf der Basis von Problemen anderer (vorrangig derer
die in der Aussichtslosigkeit feststecken) parasitär Erfolge. Es
ist dann keineswegs so, dass die Welt zynisch geworden sei. Aufbauend
auf dem Siegeszug der Affirmation (selbst des Vulgären) hat sie
unterschlagen, was Zynismus überhaupt sein könnte. Wie schlimm
eine Amnesie in Sachen Zynismus ist, lässt sich kaum angemessen
beschreiben. Sie verweist zurück bis in die unvordenklichen Zeiten
vor den Sündenfall, in reinstes, unreflektiertes Unschuldsbewusstsein.
Man muss erstaunter Maßen konstatieren: Die Rückeroberung
der Naivität hat sich, als der schwerste Gegner, des Experimentes
der Erkennenden, in Stellung gebracht. Zumal "Fungierende Ontologien
(
) auf diese Weise "als Nebenprodukte von Kommunikation"
"(6) entstehen.
Möglicherweise liefe jeder Einwande fehl, weil die "Impfung
mit dem Furchtbaren" (2) unterlassen wurde. Aller Einsatz für
Verbesserung wird allein auf Grund seines Vorzeichens restlos kanalisiert
und okkupiert von Unternehmensstrukturen und Parteigängerschaften.
Man wird zusehen müssen, wie die Kinder des Olymps ihre Kinder
anbeten. Einer Generation von Nachgeborenen, die sich selbst, gebettet
findet in eine Welt, an der vordringlich nichts zu ändern ansteht,
kann man nichts vorwerfen! Wie sollen sie auch die Hand von sich weisen,
die ihnen nur Gutes widerfahren lässt? Die sie ohne Unterlass darin
bestärkt, dass gut sind wie sie sind. Das sie keine Chancen haben,
aber auch keine brauchen. Da im Olymp ein jeder sein darf, wie er ist,
und dass das gut sei. Wie sollen sie ahnen, dass sich hinter bedingungsloser
Freizügigkeit die Furcht alleingelassener Sesshafter verbirgt?
Für sie muss der Eindruck entstehen, dass der Fall ein für
alle Mal erledigt ist, wenn sie nur die rhetorische Frage der letzten
Skeptiker einfach bejahen: Sind wir etwa im Olymp angekommen?
17.03.13