Zombies
kommen mit der Moderne
»Beeindrucke Deinen Nächsten,
wie Dich selbst!«
von
Jürgen Mick
An
ihren Kompensationsmaßnahmen sollt ihr sie erkennen: Konsum, Sex,
Prahlerei. Die Leere in ihren Augen vermochte von dem tiefen Braun nicht
überdeckt zu werden. Die nachhaltige Wirkung des Imperativs der
Moderne verursachte massive Leerstände in ihrem Gefühlshaushalt.
Die Moderne ist ein eifriger Zombie-Produzent.
Ist es nicht sensationell? Die moderne Gesellschaft bietet für
alle Situationen die passende Handlung. Für die mütterliche
Entbindung unzählige Variationen an Ort, Stellung und Hilfe. Für
das richtige Lieben, das gute Erziehen, das Beste für die Karriere,
das Gelingen der Familie, das Reden, das Streiten, das Diskutieren,
das Moderieren, die Mitarbeiterführung. Und für den Tod die
stufenlos buchbare Begräbnis-Inszenierung.
Insofern will die Moderne sich wenig von alten Gesellschaften abheben.
Sie stellt Handlungsschemata bereit, um keine Situation entgleisen lassen
zu müssen. Obgleich ihr Unübersichtlichkeit und Komplexität
nachgesagt wird, entsteht in keinem Moment Stillstand und Ruhe; kaum
Zeit zum Überlegen. Es ist ja schon alles vorbereitet. Es ist,
als wüsste jeder immer, was zu tun sei, zumindest tut er immer
etwas und darin ähnelt die Moderne - besser: sie ahmt alte Gesellschaftsformen
nach, in denen Handlungen in Form von Riten und Initiationsriten vorgezeichnet
waren.
Der Unterschied liegt allein darin die Wahl zu haben für welches
"richtige Handeln" man sich entscheidet. Das Besondere an
Riten ist ihre Singularitäten (dieses und nur dieses), und
die ihnen zu Grunde liegende Mythologie. Dem gegenüber steht
heute eine Unzahl von möglichen, (mehr oder weniger) richtigen
Handlungsofferten. Die allerdings einer unwiderlegbaren Begründung
entbehren. Vielmehr achtet man darauf, sie nachvollziehbar und auf der
Höhe der Zeit zu positionieren. Mythologie wurde vor nicht allzu
langer Zeit euphorisch abgelöst von Geschichte und letztendlich
wurde diese wiederum von einer nachgeschichtlichen Epoche "erlöst",
sodass heute keine Handlung glaubwürdig auf eine Herkunft verweisen
kann. Zusammengefasst heißt das, es gibt keine Gründe
aber mehr als genug Alternativen.
Man hat die Wahl und die einzige Singularität ist unser Geld. Mittels
finanzieller Potenz wird der Zugang zum richtigen Handeln reguliert.
Legitimation wird über Geld gewährleistet. Es ist unsere unique
Möglichkeit einer Letztbegründung für ansonsten willkürlich
gewordene Handlungen. Das Geld übernimmt für uns die Singularitätsfunktion
des Mythos. Allein das Geld ist glaubwürdig, denn auch (wie der
Mythos) und insbesondere Geld kennt weder Geschichte noch Moral. So
haben auch wir keine Geschichte mehr, sondern stilisieren uns als Produkt
amoralischer Wahlentscheidungen. Dafür sind sie schließlich
gemacht, die Sonderangebote.
Wer ausschließlich auf die Offerten der Gesellschaft vertraut,
setzt auf Systemvertrauen. Und nur zu leicht verwechselt er auf
Grund historischer Prägung Systemvertrauen mit Individualvertrauen.
Die angebotene Verlässlichkeit und Sicherheit der Systeme ist verführerisch.
Sie übersteigt in der Regel jedes menschliche Maß. Das heißt
für den Konsumenten, nichts ist so sicher, wie die von Funktionssystemen
parat gestellten, symbolisch generalisierten Funktionsmedien: allen
voran Geld, Sicherheit noch vor Gesundheit (auch die lässt sich
kaufen) und Erziehung und mittlerweile abgeschlagen dahinter dann Wissen,
Gerechtigkeit, Glaube, ...
In erster Linie entbindet den Citoyen der Moderne sein Glaube an das
Geld von jeder Begründungslast vor sich selbst (Selbstvertrauen).
Was historisch kurzzeitig von der Vernunft gewährleistet werden
sollte, davon erlöst ihn sehr bald die Funktionalität der
Medien: nämlich von einer ihm zugeschriebenen Fähigkeit zur
Urteilsfindung. So geht ihm jedes Vertrauen in Urteile, die auf ihm
eignen Vernunft basieren, verloren, was zunehmend diametral seiner Aufgeblasenheit
zum autonomen Subjekt widerspricht.
Gemäß dem Gebot, Ihr sollt den Nächsten lieben, wie
Euch selbst, führt dieser Mangel in die nächste Stufe
der Entleerung: dem Mangel an Individualvertrauen in den Nächsten.
Freundschaften enttarnen sich irgendwann in Zugehörigkeit zu "Interessensbündnissen".
Die sind ohne Angabe von Gründen ebenso schnell zu finden wie aufkündbar.
Das Vertrauen in eine persönliche Verbindlichkeit ist dann ebenso
kontaminiert von gesellschaftlichen Absichten, wie die Handlungsentscheidungen
im alltäglichen Leben. Im Zuge unsere Entleerung entgleist uns
immer weniger unser Handeln, dafür unsere Verbindlichkeiten. Selbstentleerung
einhergehend mit fortschreitender Beziehungsunfähigkeit hat die
Depression im Schlepptau. Ab sofort kann nur gelten: "Herr Rossi
sucht das Glück".
"Der moderne Mensch "hat zu viele Bestrebungen und Widersprüche;
die westliche Zivilisation hat nicht nur Vorteile, und man muss sie
auf jeden Fall teuer bezahlen", etwa durch "neuropsychisches
Unwohlsein. Die Funktion der psychopharmakologischen Substanzen besteht
darin, "den Patienten die Lebensfreude zurückzugeben, die
das moderne Leben und der technische Fortschritt fortwährend attackieren",
wie Perrault schon 1958 schreibt (1). Das Medikament Iproniazid,
das dabei helfen sollte, hat man passend auch als "Glückspille"
bezeichnet.
Das Gefühl dem Glück dauerhaft hinterher zu hecheln, verbindet
die Modernen bereits über Generationen und jede soziale Stellung
hinweg. Und zudem, das drängende Gefühl das Glück, das
einem doch zustünde, sich aber nie einstellen will, muss eingefordert
werden! Der Konsum sogenannter harter Drogen ist der offensichtlichste
Versuch der Selbstmedikation, die dieser Frustration entgegenwirken
will. So engagiert man sich im Kampf gegen Heroin, LSD und Cannabis
gibt, so gering geschätzt erscheinen die unscheinbaren alltäglichen
"Kompensationen der Leere", die exakt den gleichen Impulsen
folgen, doch denen, ob ihrer vermeintlichen Unbedenklichkeit, will sagen
gesellschaftlichen Funktionalität, alles andere als Ächtung
widerfährt. Allen voran die diesbezüglichen Möglichkeit
des Geldes. Die Ausmaße, in denen Geld einer Droge gleichzusetzen
wäre, weil sie die empfundene Unzulänglichkeit mit jeder Kompensationsmaßnahme
weiter steigert, dürften den physischen Drogen in nichts an Schädlichkeit
nachstehen. Geld ist Heilmittel und Konsum die legale Droge Nummer eins,
weil dem Geld gesellschaftlich Akzeptanz, ja viel mehr noch, weil ihm
Priorität in einer funktionsdifferenzierten Gesellschaft zukommt,
die sich mehr und mehr darauf geeinigt hat, ihr Wirtschaftssystem als
ihre Basis zu verstehen. Die Modernen haben sich Geld zu ihrem Grund
erkoren.
Ohne Grund, gibt es keine Überzeugungen. Geld ist zur Letztbegründung
geworden, und alles Handeln wird aus Überzeugung darauf zurückgeführt.
Zu verfolgen in zahlreichen Argumentationsketten: Vorrang hat in jedem
Fall die Erhaltung von Arbeitsplätzen. Bankinstitute werden mit
gesellschaftlicher Systemrelevanz aufgewertet. Aber auch ständig
angeführt in der verinnerlichten, individuellen Rechtfertigung
vor sich selbst und seinen Nächsten. Mit Verweis auf Garderobe
und andere Accessoires will bestätigt sein, es finanziell/materiell
zu etwas gebracht zu haben: Beeindrucke Deinen Nächsten, wie
dich selbst!
Es muss eine Leere gefüllt werden, die sich nicht füllen lässt,
weil ihr längst jeder Boden abhandengekommen ist. Die Zombies,
die die Moderne auf dem Gewissen hat, stehen den Heroinopfern an Entleerung
in nichts nach, sie übersteigen sie aber an Zahl um Myriaden. Auf
diesem Wege machen sich die Modernen unter der Hand selbst zu Prostituierten
Ihres eigenen Selbstverständnisses. Sie werden im selben Atemzug
Zuhälter und Hure ihrer Beeindruckungs-Maschinerie. Das heißt,
anschaffen und unterdrücken gleichermaßen; sich selbst in
Geiselhaft nehmen, für die Aufrechterhaltung des Bildes vom eigenen
Selbst, das nur existiert, wenn es von anderen gesehen wird. Das macht
die einsamen Abende so unerträglich; man zerfällt förmlich
zu Nichts.
Da kommen kommerzialisierte Soziale-Netzwerke-Plattformen gerade recht.
Auf der permanenten Suche nach Selbstvergewisserung wurde eine wahre
Lawine der Selbst-Behandlung losgetreten. Nichts befriedigt die Nachfrage
an Sinnstiftung besser, als der Markt der digitalen Spiele, Foren und
Gadgets. In der Branche weiß man zielgenau, wo der Schuh drückt,
und dass Selbstoptimierung der Opener und unausweichlich folgerichtige
Schritt sein musste. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft zur
permanenten Selbstüberwachung (Self-Tracking) und das schlechte
Gewissen gibt es passend zum neuesten iPhone, um es sich ans
Handgelenk zu schnallen. Selbst Antrieb und Motivation ist bezahlbar.
Was tut man nicht alles, um der depressiven Hemmung die Stirn zu bieten
und dem Narzissmus das Feld zu räumen. Die Vorreiter der Digitalisierung
werden getragen von einer Nachfragewelle, die dem Bedürfnis nach
Medikation eines gesellschaftlich forcierten psychopatischen Defizits
entspringt. Damit stiehlt sie der Drogenindustrie beträchtliche
Marktanteile. Man muss die Digitalisierung endlich auch als Antwort
auf unsere maroden Verortungen unserer Selbst lesen. Jede Gesellschaft
hat ihre Götter, die ihnen zu Hilfe kommen. Der Markt steht uns
bei, - darauf können wir uns zumindest verlassen.
27.04.15