Tyrannei
der Inklusion
Teil 1:
Jenseits der Gesellschaft muss die Freiheit wohl grenzenlos
sein
von
Jürgen Mick
Eine
hartnäckige und große Verwirrung stiftende Annahme in Bezug
auf die Gesellschaft ist, dass sie etwas mit dem Gemeinwohl zu tun haben
könnte. Hierbei sitzt man der landläufigen Überbrückung
und Aufhebung der Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft auf.
Die Differenz zwischen der Gesellschaft, die wir als ein geschlossenes,
autopoietisches Kommunikationssystem verstehen und dem, was wir dem
Wohl aller verstehen, liegt aus historischen Gründen verschüttet.
Ein bedeutender Unterschied, dem hier unbedingt Rechnung getragen werden
soll. Gemeinhin birgt die Gleichsetzung von Gesellschaft und Gemeinschaft
die Gefahr, dass, während man einerseits hinnimmt, dass "Spezialisierung
und funktionale Differenzierung
zum Leitprinzip der Strukturbildung
in der modernen Gesellschaft [wird]"(1) , man gleichzeitig
permanent damit beschäftigt ist "Gesellschaft" als Containerbegriff
zu restituieren, einer Gesellschaft freilich in der alle sich aufgehoben
fühlen sollen. Weder für das Seelenheil noch für den
Wohlstand des Einzelnen bietet die Gesellschaft eine Garantieklausel.
Sie macht allenfalls ganz unsentimentale, wenn auch sehr reizvolle Angebote.
Und wäre der Slogan nicht von einem ganz spezifischen Funktionssystem
gebucht, die Gesellschaft der Gesellschaft könnte ihn sich
ganzheitlich patentieren lassen: "Dabei sein ist alles!"
Mit den Worten der Soziologie hieße das, die Gesellschaft drängt
uneingeschränkt auf Vollinklusion. Parallel zum allbekannt vorherrschenden
Wachstumsimperativ der Moderne entwickelt der Soziologe Rudolf Stichweh
seine Argumentation der Tendenz zur Erhöhung der Wahrscheinlichkeit
von Vollinklusion. Eine Inklusion einer immer größeren Zahl
von Personen in ein System wäre nämlich auch eine der plausibelsten
Formen für Wachstum.(1) Funktionssysteme wirken dabei wie Katalysatoren
zur Spezialisierung und Professionalisierung. Die Gesellschaft präpariert
über Berufe sogenannte "Spezialistenrollen", welche
die Inklusion in jeweilige Systeme, wie dem Rechtssystem, dem Wirtschaftssystem,
dem Erziehungssystem usw. garantieren. Die von der Gesellschaft bereitgestellten
Andockmöglichkeiten sind darüber hinaus und selbst in geminderter
Stufe verlockend. Dafür hält die Gesellschaft neben den erwähnten
Spezialistenrollen - die nicht für jedermann zur Verfügung
stehen können - in jedem Funktionssystem "Publikumsrollen"
bereit. Für die simpelste Teilhabe genügt beispielsweise dann
der Gebrauch von Geld, um im Wirtschaftssystem inkludiert zu sein oder
ein Schulbesuch für die Inklusion ins Erziehungssystem. Die Moderne
hält die Möglichkeit zur "Vollinklusion aller Gesellschaftsmitglieder
in jedes der Funktionssysteme"(1) bereit. Und darüber
hinaus entwickelt sie einen "zweifellos beobachtbaren Imperativ(s)
der Vollinklusion"(1) . Dieser Imperativ der Vollinklusion,
maßgeblich befördert durch den Wachstumsimperativ der Moderne,
entwickelt dabei - so die These dieser Überlegungen - die Tendenz
zur Tyrannei für die daran parasitierenden psychischen Systeme.
Irritationen der Moderne
Geben wir einigen prominenten Zeugen der Moderne das Wort, denen die
Wahrnehmung, jenseits soziologischer Begrifflichkeiten, als entscheidende
gesellschaftliche Veränderungen unter die Haut ging. So schrieb
Paul Valéry 1931 in seiner Essaysammlung Blicke auf die gegenwärtige
Welt: "Die Zeit der geschlossenen Welt beginnt".
Auch Niklas Luhmann könnte mit dieser Aussage leben, würde
man "Welt" einfach durch "Gesellschaft" ersetzen.
Henning Ritter interpretiert Valery so: "Die offene Gesellschaft,
die über die geschlossenen Gesellschaften einen endgültigen
Sieg davontrüge, so kann man Valéry deuten, würde eine
geschlossene Welt heraufführen. ... nur noch ein Innen und kein
Außen mehr kennen ... Es wäre die erste geschlossene Gesellschaft,
die sich nicht öffnen ließe."(2) Valérys
Raummetapher will die Expansion ins Vage für beendet erklären.
Es beginnt jetzt die Zeit der Inventarisierung: "Die Bestandsaufnahme
der Arbeitskräfte, die Vervollkommnung aller Organe und Mittel
gegenseitigen Verkehrs in allen Ländern wird eifrig betrieben."(3)
Dass gleichzeitig die räumliche Ausdehnung unseres Planeten an
ihre Grenzen stößt, dessen Auslotung in alle Himmelsrichtungen
an ihr Ende kommt, wird schließlich heute als Globalisierung problematisiert,
was bruchstückhaft und nur ungenügend die tatsächliche
Vehemenz beschreibt, mit der sich die Gesellschaft seit mindestens vierhundert
Jahren reorganisiert. So frägt Peter Sloterdijk in seiner Rede
über "Streß und Freiheit"(4) von 2011 nach
den Bedingungen der Möglichkeit von Großvolkskörpern.
Und er vermutet als Voraussetzung für das Gelingen solcher Unternehmungen
die Einbindung der jeweiligen Gesellschafter über kollektive Stresszustände,
ganz in Anlehnung von Heiner Mühlmanns MSC-Theorie(5) . Augenscheinlich
bringt für viele die Dynamik der "Neu"-Organisation der
Gesellschaft den Antagonismus innerer Freiheit versus Stressatoren der
"Lebensrealität" mit sich.
Worauf die Veränderungen aus soziologischer Sicht hinauslaufen,
das lassen wir gerne Peter Fuchs aufs treffendste zusammenfassen:
"Die Frage ist also nicht, ob und wie Kompossibilität gesellschaftlich
erreicht wird, sondern die nach dem "Zusammenkönnen"
psychischer Systeme mit sozialen Systemen unter Voraussetzung, dass
Jahrzehntausende lang andere Bedingungen für dieses "Zusammen"
galten, beispielsweise Bedingungen, unter denen sich die Leute im Haus
der Gesellschaft angesiedelt fühlten, Teile der sozialen Ordnung
zu sein schienen, deren Einheit durch eine representatio identitatis
gegeben war, die von der Spitze der Hierarchie symbolisiert wurde, über
die sich dann noch einmal das Umgreifende wölbte, ein metaphysischer
Schutzschirm, wie er in so vielen Bildern und Liedern zelebriert wurde
und noch zelebriert wird."(7)
Der Globalisierungsprozess scheint gesellschaftlich wie territorial
in die Endphase einzubiegen, das "Global Age" ist eingeläutet.
Der Begriff ist bei Martin Albrow zu finden, der damit das Ende der
Moderne einläutet, das er übrigens an dem Versiegen dreier
Faktoren festmacht, auf denen diese sich einst gründete: 1. Unendliche
Bodenschätze, 2. Unendliche Territorien und 3. Unbeschränkte
Rationalität.(8) Allein das Versiegen der dritten dieser Ressourcen
geht ist mit der Entdeckung immanenter Irrationalität gekoppelt
und zeigt, dass es nicht genügt, allein eine räumliche Eingeschlossenheit
als definit zu erklären und eine Innengewandtheit auszurufen, die
nur noch der Bestandsaufnahem zu überantworten wäre, für
eine Welt, in der nur noch ein Innen und kein Außen mehr zu deuten
bliebe. Der sphärische Ansatz umnebelt, dass es sehr wohl (wie
für jeden Beobachter zweiter Ordnung, der ein System beobachtet)
ein Außen, eine Umwelt zu deuten gibt. Dieser Interpretation kann
man folgen, solange man Psychen auf Individuen im Sinne von Körpern
bezieht. Der Widerhall, den die Erkenntnis über die rein räumliche
Begrenztheit unseres Heimatplaneten erzeugt, ist dennoch im Sinne Albrows
nicht uninteressant und ja auch keinesfalls zu leugnen, wie auch deutlich
in Sloterdijks Sphärologie anklingt. Eine hinreichende Erklärung
liefert das vage Gefühl der Unsicherheit allerdings weniger dafür,
weshalb wir uns kaum noch einer funktionsdifferenzierten "gesellschaftlichen
Inklusion" entziehen können, als vielmehr dafür,
dass diese längst nicht mehr für unser Aufgehobensein Sorge
trägt.
Wie also - um noch einmal auf Peter Fuchs zurückzukommen - will
das Zusammenkönnen psychischer Systeme mit sozialen Systemen gelingen?
Eines der entmutigenden Mysterien scheint uns immer deutlicher vor Augen
geführt zu werden. Die Un-Adressierbarkeit unserer Anliegen. Wir
stellen konsterniert fest, dass es keinen Adressaten mehr gibt, an den
wir die scheinbare Kernfrage unserer Zeit richten könnten. Wir
werden unsere Kritik an die Gesellschaft nicht mehr los. In einer sich
selbstorganisierenden Gesellschaft ist auch niemand dafür verantwortlich
zu machen. Wir sind in einem alten Sinne schamlos geworden und fühlen
machtlos einen "Automatismus" am Werke. Wir schrecken lieber
vor von selbst ablaufenden, gesellschaftlichen digitalen Mechanismen
zurück, ehe es uns gelingen will, zu akzeptieren, dass Gesellschaft
in einer funktionsdifferenzierten Gesellschaft nichts damit zu tun hat,
ob unser Wohlbefinden Bestand haben wird oder gar ob unser Seelenheil
abgesichert sein wird, ja nicht einmal, ob unser Wohlstand zu bewahren
sein wird. Aus dem Grund der fehlenden Ansprechstation entstehen permanent
Fehlzuweisungen und daraus resultiert eine latente Dauerenttäuschung.
Zu welchen Friktionen es dabei kommt, ahnte man schon in der frühen
Neuzeit sehr bald.
Erste Ausfälle bei Rousseau und Ahab
Die prozessuale Straffung der Unausweichlichkeit der Entwicklungen wird
begleitet von einem Gefühl der Beschneidung. Diese als Bedrängung
empfundene Eichung der Individuen wird erstmals, worauf Sloterdijk hinweist,
von Rousseau artikuliert. Jean-Jacques Rousseau, Berühmtheit seiner
Tage, vermeint die Vereinnahmung körperlich am eigenen Leib zu
verspüren. Als er sich dessen bewusst zu werden scheint, entschließt
er sich spontan zu einer "Auszeit", was doch schon sehr modern
anmutet. Dieser "Ausbruch" (woraus auch immer), den er in
seinen "Träumereien" niederlegt, wird zukünftig
prototypisch für einen "Selbst-Verteidigungsprozess"
des Subjekts gegen gesellschaftliche Vereinnahmung, den man während
der letzten dreihundert Jahre auf immer wieder einfallsreichste Weise
variierte. Man kann es als die beginnende Geschichte des Urlaubs lesen.
Das Vehikel jener "Extemporalien" ist das "Subjekt"
und die ihm zugesprochene inhärente Handlungsfreiheit. Jedem, der
sich seit Rousseau als freier Mensch beziehungsweise als autonomes Subjekt
wähnte, war der Auftrag des Sich-Herausnehmens mit faustischer
Tinte ins Auftragsbuch seiner Persönlichkeit geschrieben. Diderot,
sein Ex-Freund und späterer Rivale, kündet bereits von den
"Feinden des Menschengeschlechts" von einer neuen Ordnung,
"die sich durch ihre Berufung auf die Menschheit legitimieren
will."(2) Mit den Effekten der Problematik, die die Differenz
sozialer Inklusion/Exklusion auf ein Menschsein herunterbrechen, ist
die Entwicklung der anschließenden Identitäts-Geschichte
gepflastert. Sie verweisen deutlich auf die Gefahren, die hinter dem
Definitionsversuch vom Menschsein beziehungsweise der Menschheit lauern.
Dennoch hält vor allem die frühe Neuzeit, als man also versucht
ist Ordnung von Europa aus über den Planeten zu exportieren und
selbst in der Zeit der Aufklärung steckt, die Drohung vom Ausschluss
aus dem Menschengeschlecht permanent im Anschlag. Als freche Antwort
darauf, versteht sich spontan die sich selbst ausschließende Figur
des "Piraten". Sie will pars pro toto dem neugewonnen
Ausgrenzungswahn Zeugnis liefern: "Die Ordnung machte den Piraten
zum Störer: Der Pirat wurde zum Feind des Menschengeschlechts,
zum hostis generis humani erklärt."(2) Carl Schmitt folgerte
daher präzise: "Feind des Menschengeschlechts (
)
ist derjenige, der den Schritt aus dem Naturzustand nicht mitmacht",
oder auch, "wer in der Zivilisation die Freiheit des Naturzustandes
für sich in Anspruch nimmt."(9)
Die Freiheit des Naturzustandes - darüber müsste man zuerst
übereinkommen -, gilt als eine Illusion der Romantiker. Um die
so verstandene Freiheit einzuklagen, müsste es quasi einen Weg
zurück geben. Nicht einmal auch nur rückblickend ließe
sich erahnen, wie denn ein solcher Naturzustand in Freiheit vorzustellen
wäre. Freiheit macht überhaupt erst Sinn als Freiheit in Gesellschaft.
Ist nicht selbst der Freibeuter nur denkbar als Gegenspieler, ein freier
in einer beengenden Gesellschaft? Auch er findet sich jedenfalls - wenn
auch in einem sehr spezialisierten - in einem Kommunikationssystem der
Gesellschaft wieder. Er gehört insofern dazu, da er nämlich,
wie jeder Outlaw, die Außenseite markiert. Darüber will uns
auch Hermann Melville in Kenntnis setzen, wenn er uns auf große
Fahrt mit dem Walfänger Kapitän Ahab schickt. Die Besatzung
seines imaginierten Seelenverkäufers schildert in Form eines gesellschaftlichen
Miniatur-Prototyps die Vision einer multi-ethnischen und multi-kulturellen
Kommunikationsgemeinschaft auf Renditekurs. Hier bekommen wir eine Mannschaft
präsentiert, die sich - mehr oder minder freiwillig in ein klaustrophobes
Konstrukt einschließend - nur einer Absicht verschworen haben,
die sie eint: Die Option zur Verwirklichung individueller Interessen.
In eine artifizielle Lebens-, Schicksals- oder besser Zweckgemeinschaft
gezwungen, unternehmen sie in Form einer Schiffsmannschaft die Verrichtung
einer solidarischen Absicht ohne Ansehen der (je übrigen) privaten
Personen, in der stillen Hoffnung auf jeweils individuelles "Glück".
Diese artifizielle Konstellation befindet sich also von Anfang an in
hoch angespannter Beziehung. Sie ist die Versuchsanordnung einer neuen
Gesellschaftsform, die von der Un-Person (der Privatperson) absieht.
Sie ist dementsprechend schnell reizbar und nur Dank gezielter Mediation
als gesellig zu bezeichnen. Da fällt es auch jeder Landratte leicht,
sich vorstellen, weshalb die Bevorratung hochprozentigen Rums an Bord
höchste Priorität genießt. Es ist die Brüchigkeit
des "gesellschaftlichen" Firnis´, der diese quasi unter
Laborbedingungen gestellte Referenzgruppe auszeichnet. Die Gefährdung
derartiger Geselligkeitskonstrukte ist mit hochgradiger Wahrscheinlichkeit
immer dann unausweichlich, wenn Ideale sie durchkreuzen. So ist es bei
Melville Kapitän Ahab selbst, der im Anblick des Weißen Wals
"uneinsichtig", irrational und emotional reagiert und renitent
auf seiner Idee von Gerechtigkeit beharrt und darauf besteht seine persönliche
Lust auf Rache zu stillen. Allein mit seinem zur Obsession mutierten
Hass verdirbt er das Modell eines schnöden, aber letztlich alle
versöhnenden Geschäfts. Die Rendite hätte das Blutopfer
ablösen sollen.
Individualisierung durch Inklusion: Ein soziologischer
Rückblick mit Luhmann
Wenn wir heute von Inklusion sprechen meinen wir plurale Inklusion.
Voraussetzung ist die Pluralität der Funktionssysteme der Gesellschaft
bietet zahlreiche Möglichkeiten der Inklusion an - nämlich
in Bezug auf das jeweilige System. Einen Primat unter den Systemen gibt
es ebenso wenig, wie es die eine Gesellschaft gibt, in die man inkludiert
sein könnte. Luhmann behauptet, die "Ordnung der Inklusion
folgt (
) dem Differenzierungsprinzip der Gesellschaft."(9)
Mit historischem Überblick betrachtet, heißt das im Einzelnen,
dass in segmentären Gesellschaften Inklusion als Zugehörigkeit
zu "Kleinsteinheiten der Wohn- und Lebensgemeinschaften"
gewertet wird. Sie wird über Abstammung und Stammeszugehörigkeiten
definiert. Ein Überleben außerhalb derartiger Verbände
gilt faktisch als unmöglich. Verbannung und Aberkennung von Eigenschaften
der Zugehörigkeit zählen zusammen mit der Todesstrafe zu den
härtesten Sanktionierungsoptionen bei Fehlverhalten. In stratifizierten
Gesellschaften wird Inklusion über Zugehörigkeit zu Kasten
oder Ständen - also nächst größeren Organisationseinheiten
- geregelt. Wobei hier gilt, dass man immer nur einem dieser Teilsysteme
angehören kann. Zumeist regelt da die Zugehörigkeit zu einem
Haushalt noch automatisch die Einbindung in die sozial-politische Ordnung.
Als Form der Exklusion kennt diese Gesellschaftsdifferenzierung den
gegen die Gesellschaft abgeschotteten Alleinlebenden, wie etwa den Eremiten
und den Mönch. Im Laufe der Entwicklung mehren sich deren Erscheinungsformen.
Man kennt Bettler, Desserteure, Exkommunizierte, Vagabunden und selbstverständlich
jede Art von Kriminelle. Inklusion ist da bereits vor allem an Erwartbarkeit
in der Interaktion gebunden. Auch Sesshaftigkeit gewinnt einen hohen
Stellenwert. Mit zunehmendem Auftreten der Phänomene von Exklusion
steuert man dann auch gesellschaftlich über Re-Inklusionspolitik
und Resozialisierung gegen. Das bedeutet beispielsweise, anstelle von
dauerhafter Exklusion von Verurteilten in Strafkolonien, erfolgen Anstrengungen
der Reintegration und Reformierung der Straftäter mittels Zuchthäuser
und schlussendlich über den Arbeitsmarkt als Produktivkräfte.
Historische Individualisierungskonzepte
Luhmann weist darauf hin, dass in früheren Gesellschaftsformen
es die Inklusion ist, die individualisiert. Sie generiert gleichsam
erst Individuen, entsprechend der jeweils vorherrschenden Gesellschaftsorganisation
auf unterschiedliche Weise. Individuum ist man da zuallererst durch
die Inklusion in Sozialsysteme, die mit der Kenntnis der Spezifik jedes
seiner Mitglieder unter Vertrauensvorschuss operieren. Dort bedarf es
einer möglichst genauen Kenntnis untereinander. Man kennt es heute
noch aus rural strukturierten, peripheren Gegenden . So lassen sich
neben namentlicher Bekanntheit auch Eigenschaften und Spleens kommunizieren,
so dass der Einzelne in seiner Einzigartigkeit zu Tage tritt. Der Mechanismus
der individuellen Zuschreibung wird später in den komplexeren,
stratifizierten Organisationsformen zwar beibehalten, aber auf modifizierte
Art und Weise, indem sich gleichsam Schichten von Ordnungen darüberlegen:
"Disziplinierte Individualität ist, wenn man so will ein Resultat
von Landwirtschaft. Das Prinzip der Individualisierung durch Inklusion
wird jedoch nicht geändert. Es bleibt und wird erst recht grundlegend,
wenn die Gesellschaft Stratifikation entwickelt, weil man dann nur an
der Zuordnung von Personen zu sozialen Schichten, Kasten oder Ständen
erkennen kann, wie sie zu behandeln sind. (
) Der Aufbau von Komplexität
erfordert die Reduktion alter Komplexität, bleibt aber im Übergang
und seitdem abhängig davon, dass Individualität nach wie vor
von Inklusion abhängt."(10) Der Einzelne erhält seine
Individualität nicht mehr aus eigenem Repertoire, sondern aus einem
sozial aufgeteilten Spielraum heraus, in welchem er als Individuum aufgehoben
ist, und über den er sich durch Zugehörigkeit definieren kann.
Inklusion auf Schichten, Geschlechter und Kasten bezogen heißt
beispielsweise: "Die Schichten bestehen keineswegs aus Individuen,
die nach individuellen Merkmalen seligiert sind, sondern ordnen ganze
Familien bzw. Haushalte und damit auch die Einzelmenschen in die Gesellschaft
ein. Die Stratifikation bewahrt gewissermaßen die alte segmentäre
Gesellschaftsordnung innerhalb der einzelnen Schichten, weil sie nur
so die Individuen placieren, nämlich Individuen sein lassen kann."(10)
Für einige mochte dies wie ein Käfig gewirkt haben, für
die meisten jedoch fungierte es als Verortung. Es bedeutete Zugehörigkeit,
die den Psychen Stabilität gab. Unsicherheit erfasste nur denjenigen,
der versuchte auszubrechen, wovor strikt gewarnt wurde. Fixiert sind
die Individuen in ihrer Schicht vor allem über moralische Vorurteile.
Neben sittlichen Konventionen erfährt das Konstrukt Unterstützung
metaphysischer Art. Jenseitigkeit hilft die Gitterstäbe der Aufgehobenheit
unsichtbar zu machen: "Die Unterscheidung von Leib und Seele,
von diesseitiger und jenseitiger Existenz macht diese Zuordnung erträglich".(10)
Dem Realisten und Rationalisten wird einiges abverlangt: Der Wahrheit
ins Auge zu sehen, wie es seit dem 17. Jahrhundert für aufgeweckte
Geister zwingend wird, ist eine Zumutung und von selbstzerfleischender
Qualität. Man ist aufgefordert, die eigene Beschränktheit
zu sehen, sie zu erkennen und vor dem Abgrund der Verlorenheit dennoch
nicht zurückzuschrecken.
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TEIL 2 >
22.01.2016