Der
liebliche Strandgleiter
von Günter Schweigard
Plank
steht am geöffneten Fenster einer der obersten Etagen des Apartmenthauses.
Er zündet sich eine Zigarette an, saugt den warmen Rauch ein und
genießt den ihm sehr vertrauten Moment des Ausblasens. Bereits
damals, als Student der Medizin, war ihm schon bewusst gewesen, dass
seine Ausatemluft kein wertloser Stoff ist. Gestützt auf Versuchsreihen,
im Rahmen studentischer Seminare an der Universitätsklinik, verzeichnete
man, gegenüber der Einatemluft, bei der Ausatemluft, lediglich
einen Rückgang des Sauerstoffgehaltes von 21% auf 16%. Mit der
Ausatemluft kann man Leben retten. Es ist erst kurz nach vier, doch
es beginnt bereits zu dämmern. Plank blickt hinunter, auf unzählige
Autos, die sich aus der Stadt hinausplagen. Die warmen Abgase steigen
nach oben und mischen sich mit der kalten Dezemberluft. Weihnachtsbeleuchtung
an Stahlseilen (stilisierte, fliegende Engel mit Trompete), in Abständen
von nicht mehr als zwanzig Metern, über die gesamte Straße
hinweg, von einem Haus zum gegenüberliegenden, gespannt. Dazu noch
einzelne kaltblau Diodenlichter über den Ladengeschäften.
Ein gewohntes Bild für Plank. Er lebt hier schon seit drei Jahren.
Der Verkehrslärm stört ihn immer noch. An einer der Hauptausfallstraßen,
dort, wo an Werktagen, um diese Zeit, der Feierabendverkehr unerbittlich
einzusetzen beginnt, sollte man nicht wohnen. Plank ist kein Städter,
doch der Umzug hierher war für ihn unausweichlich. Nachdem er,
Prof. Dr. Paul Plank, die Leitung der Frauenklinik am hiesigen Klinikum
hatte abgeben müssen (immer wieder Frauengeschichten, während
der Dienstzeit; hinzu kam ein unverzeihlicher folgenschwerer Kunstfehler),
bestand Lydia darauf, sich von ihm zu trennen. Weder Hass, noch erneut
aufkommende Liebe erschwerten die notwendigen Absprachen zwischen Plank
und Lydia. Frieder solle weiterhin in seiner gewohnten Umgebung leben
können, vereinbarte man einvernehmlich. Die Schule. Die Freunde.
Der Weg zur nahen Trambahn. Alles einstudiert und über mehrere
Jahre hinweg bewährt. Sommer wie Winter. Frieder solle auch weiterhin
in der großzügigen Arztvilla, am Stadtrand, leben können.
Doch nicht zusammen mit dem Vater. Nur zusammen mit der Mutter, und
er solle, darüber hinausgehend, solange über die Trennung
der Eltern im Unklaren gelassen werden, bis er, später einmal,
die Wahrheit besser würde verkraften können. Plank verzichtete
freiwillig darauf, jene Wochenenden, die, aufgrund der Rechtssprechung,
Frieder bei ihm hätte verbringen können, oder an denen er
mit Frieder zusammen Ausflüge hätte machen können, für
sich zu reklamieren. Man vereinbarte, Frieder darüber zu informieren,
dass Plank umgehend, lange im Voraus geplante und mittlerweile unaufschiebbare
Forschungen zu betreiben habe und er sich hierfür schnellstens
in ein sehr fernes Land begeben müsse. Frieder war verständlicherweise
einigermaßen entsetzt über diese Nachricht, aber er war,
für einen Jungen von acht Jahren, letztlich sehr einsichtig.
Die
Anzeige, am Schwarzen Brett, "Nachmieter für Ein-Zimmer-Apartment
zum 15.12. gesucht", auf die der wohnungssuchende Plank sich
umgehend gemeldet hatte, richtete sich vornehmlich an die Studentenschaft.
War Plank aber letztendlich egal. Das große Fenster, zwar zur
Straße, doch dafür nach Süden. Im Badezimmer lediglich
ein, mit einem Hebel zu bedienendes, Oberlicht. Seine Vormieterin, eine
Studentin der Philosophie, mit Schoßhündchen. Hier, im Apartmenthaus,
nur Studenten und sozial Schwache. Plank, so gut wie sicher der Nachmieter.
Nach drei Tagen war er bereits aus der Arztvilla ausgezogen. Nicht mehr
sein Zuhause und auch das Ein-Zimmer-Apartment, in seinen Augen, lediglich
etwas Vorübergehendes. An Heilig Abend, allein, mit einer Flasche
guten Rotweins und Fertigpizza "Dr. Oetker, Steinofen Tradizionale,
Spinacci". Im Sommer stellte sich dann (bei geöffnetem
Fenster) heraus: Egal, welche Windrichtung, immer ein leichter Geruch
nach Döner. Auch im darauf folgenden Sommer, Dönergeruch.
An Heilig Abend wieder Rotwein und Fertigpizza. Neue Zeitrechnung.
Ein Martinshorn ist zu hören. Plank verfolgt das blinkende blaue
Licht des herannahenden Rettungswagens. Es ist kalt geworden. Er wirft
die noch brennende Zigarette auf die Straße, schließt das
Fenster und bläst letztmalig den warmen Rauch aus (ins Zimmer).
Es gibt nur ein Zimmer. Ein-Zimmer-Apartment. Dennoch sehr großzügig.
Eine geschlossene Tür, die ins Badezimmer führt. Planks Blick
fällt auf unzählige herumliegende leere Flaschen. Mehrere
Klappstühle, zusammengeklappt, an der Wand lehnend. Gestapelte
Bierkästen. Jede Menge Gläser, leer, einige, halb gefüllt,
mit schon abgestandenen Getränken. Mehrere Klapptische, vollgestellt
mit leeren Sektflaschen. Wieder Vorweihnachtszeit. Das dritte Jahr nach
seinem Einzug. Gestern hatte Plank zur Weihnachtsfeier in sein Ein-Zimmer-Apartment
eingeladen. Mal etwas anderes, als immer im wenig festlichen Gemeinschaftsraum.
Es durfte sogar geraucht werden. Plank aber weiterhin nur am geöffneten
Fenster. Die Macht der Gewohnheit. Zwei auf seiner Etage wohnende Germanistik-Studentinnen
brachten ihre Freundinnen und ihre Menthol-Zigaretten mit. Auch massenhaft
Gäste aus den anderen Stockwerken. Gelungener Abend. In gewisser
Weise, von Vorteil, hier, im Apartmenthaus, dass keiner der Bewohner
Zimmerlautstärke einfordert. Etwas Besonderes, mit so vielen Jungen
Menschen. Alle sehr jung, bis auf einen, der aussah wie Rob Ford, Torontos
Skandal-Bürgermeister. Sehr beleibt, sehr kurze Arme. Rote Krawatte,
weißes Hemd, offenes Jackett, mittleres Alter. Keine Ahnung, wer
Rob Ford überhaupt eingeladen hatte. Deutlich erinnert sich Plank,
wie der Dicke mit den kurzen Armen, noch im Anfangsstadium der Weihnachtsfeier,
ausgelassen zu Reggae-Musik tanzte, und dabei seine kurzen Arme um seinen
dicken Wanst schleudern lies. Gleichzeitig bewegte er sich ungestüm
vor und zurück, so dass er, unweigerlich, die Kontrolle über
seinen Körper verlieren musste und er, folgerichtig, beinahe ungebremst,
in einen der, weit in der linken Raumhälfte, aufgebauten Klapptische
hineinlief, auf denen, säuberlich aufgereiht und nach Inhalt geordnet,
bereits geöffnete Getränkeflaschen standen. Mit einer Umfassungsbewegung
seiner kurzen Arme versuchte Rob Ford die fallenden Flaschen vor dem
Abstürzen zu bewahren, was kläglich misslang. Der dumpfe Aufschlag
seines Körpers, auf den Klapptisch, hätte sicherlich für
einige Erheiterung bei den Gästen gesorgt, wäre Rob Fords
Körper und vor allem, sein Gesicht, nicht von erheblichen Schnittverletzungen
gezeichnet gewesen, welche er sich beim Sturz auf die Getränkeflaschen
zugezogen hatte, die durch sein immenses Körpergewicht reihenweise
zersplittert waren. Glücklicherweise waren zwei Studentinnen der
Medizin anwesend, die Plank kurzerhand zu seinen Arzthelferinnen werden
ließ. Das Ein-Zimmer-Apartment, Notfallambulanz. Mehrere größere
Schnittwunden verschloss Plank fachmännisch mit extra für
diesen Zweck angeschafften "EPIGLU, Ethyl-2-Cyanoacrylat- Wundkleber",
während seine beiden Arzthelferinnen an Rob Ford die narkotische
Wirkung von Brandy austesteten. Zu später Stunde, gegen Ende der
Weihnachtsfeier, war die einhellige Meinung, man solle mit dem Autofahren
aufpassen, wenn man etwas trinkt. In der Vorweihnachtszeit würde
auf den Straßen verstärkt kontrolliert werden und fündig
würde man immer, bekräftigte ein sichtlich dem Alkohol zusprechender
Jura-Studenten, der im Türrahmen lehnte und nachfragte, ob jemand
bei ihm mitfahren wolle. Rob Ford und eine der Lehramtsanwärterin
wollten mitfahren. Schade, dachte Plank, denn die Lehramtsanwärterin
hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit Deborah Harry. Bereits
damals, als Student der Medizin, war Plank unglücklich verliebt
gewesen, in Deborah Harry und, gleichzeitig, in die Bedienung im "Flamingo"
(einmal die Woche Billard und Asbach Cola), die immerhin annähernd
aussah, wie Deborah Harry. Im Nachhinein, eine Aneinanderreihung von
Missverständnissen. Auch die Ehe mit Lydia (obwohl keinerlei Ähnlichkeit
mit Deborah Harry), ein Missverständnis.
Die
Versorgung der Schnittwunden von Rob Ford und die Ähnlichkeit einer
der Lehramtsanwärterinnen mit Deborah Harry, die einzigen Erinnerungen,
die Plank von der Weihnachtsfeier in seinem Ein-Zimmer-Apartment im
Kopf behalten konnte.
Die
beiden Studentinnen der Medizin schlafen noch immer, nackt und ziemlich
verkatert, in Cashmere-Decken gehüllt, auf seiner mit schwarzem
Leder bezogenen Eck-Couch. Plank holt die Kopien der Briefe, die er
in den letzten drei Jahren Frieder zu Weihnachten geschrieben hat, aus
dem Sideboard (Biedermeier-Stil). Das Sideboard hatte er, als einziges
Möbelstück hierher, in dieses Ein-Zimmer-Apartment mitgenommen.
Die mit schwarzem Leder bezogene Eck-Couch, das einzige weitere Möbelstück,
hatte er sich erst vor kurzem angeschafft. Im ersten Jahr, nach seinem
überstürzten Auszug aus der Arztvilla, Berge von angefangenen
Weihnachtsbriefen, an Frieder, die, nach ein paar Zeilen in den Papierkorb
wanderten. Er musste einsehen, dass er es verlernt hatte, durchformulierte
und wohlüberlegte Sätze zu schreiben. Die Weihnachtsbriefe
an Frieder, in der Folge, allesamt aufgesetzt und dann irgendwann, nach
mehrmaligem Probelesen, schließlich in Reinschrift. In diesem
Jahr ist Plank spät dran. Er blättert die Weihnachtsbriefe
der letzten Jahre durch. Allesamt Briefe, mit falscher Angabe seiner
Tätigkeit und seines Aufenthaltsortes. Plank betreibt keine Forschungen
in sehr fernen Ländern. Er war weder in den Bergen des Himalaya
gewesen, wie er dies Frieder, im ersten Jahr nach seinem Auszug aus
der Arztvilla, geschrieben hatte (Kopien von landestypischen Briefmarken
und Poststempeln, täuschend echt, aus dem Internet), noch hat er
sich, im zweiten Jahr nach seinem Auszug, für einen längeren
Forschungsaufenthalt ins Amazonasbecken begeben. Er wohnt in einem Ein-Zimmer-Apartment,
hält sich neuerdings als Apothekenkurier über Wasser.
Plank setzt sich neben die mit schwarzem Leder bezogene Eck-Couch auf
den Boden und legt seinen Kopf auf den unverhüllten Brüsten,
einer der Studentinnen der Medizin, ab und beginnt zu schreiben:
Lieber
Frieder,
wie
dir Mama sicherlich schon erzählt hat, befinde ich mich derzeit,
auf einer tropischen Insel, in einem sehr fernen Land, weit ab von all
dem, was wir gemeinhin für die Welt halten. Es gibt hier, im tropischen
Regenwald, der auf dieser Insel vorherrscht, sogar noch Menschen, die
ohne Kontakt zur Zivilisation leben, die aber völlig ungefährlich
sind. Unsere kleine Forschungsgruppe hat sich, vor nun schon mehr als
einer Woche, nochmals aufgeteilt. Ich streife also, lediglich begleitet
von zwei jungen Studentinnen der Medizin, mit dem Ziel, unbekannte Tierarten
zu entdecken, umher. Wir sind völlig auf uns allein gestellt, doch
wir lernen langsam mit den widrigen Umständen unseres neuen Lebensraumes
zurechtzukommen. Wenn es Nacht zu werden beginnt, beenden wir unsere
Forschungen, gehen hinunter zum Meer und schlagen unser Lager an einem
der weißen Sandstrände auf. Ich grabe für uns alle kleine
Schlafmulden in den warmen Sand, bevor ich für unser Abendessen
sorge. Ich habe gelernt, mit einem langen zugespitzten Holzstock im
seichten Wasser Fische zu fangen - wenn ich wieder zu Hause bin, werde
ich dir diese Technik beibringen.
Noch bis vor wenigen Wochen waren wir mit unserer Tätigkeit, unbekannte
Tierarten zu entdecken, nicht sehr erfolgreich gewesen. Eines Morgens,
jedoch, während meine beiden Begleiterinnen noch in ihren, von
mir gegrabenen und mit Bananenblättern ausgelegten Sandmulden schliefen,
erblickte ich, am Rand des Regenwaldes, ein Wesen, das sich reichlich
an den Früchten eines tropischen Baumes bediente. Sofort wurde
mir klar, dass ich einer den Menschen noch unbekannten Tierart gegenüberstand.
Trotz meiner, vor langer Zeit erlernten, Fähigkeiten, mich lautlos
und gegen den Wind anzuschleichen, nahm das Wesen meine Witterung auf
und flüchtete in den dichten Regenwald, noch bevor ich ausreichend
nah herangekommen war, um ein Foto zu schießen. Umgehend weckte
ich meine beiden Begleiterinnen und wir folgten über mehrere Stunden
hinweg der Spur des von mir entdeckten Wesens. Der Tag war schon fortgeschritten
und die Mittagszeit war schon lang vorüber, da stießen wir
auf eine kleine Höhle, aus deren Inneren wir ein sanftes Atemgeräusch
zu vernehmen glaubten. Wir warteten die ganze Nacht vor der Höhle,
doch das uns noch unbekannte Wesen steckte nicht einmal die Nase aus
dem Höhleneingang heraus. Hätten wir zu diesem Zeitpunkt schon
mehr über seine Lebensgewohnheiten Bescheid gewusst, wären
wir sicherlich in unser Dreimann-Zelt gekrochen und hätten bis
zum Morgengrauen in unseren Schlafsäcken verbracht, denn, wie sich
in den nächsten Tagen herausstellen sollte, ist das von mir entdeckte
Wesen alles andere, als ein Nachttier. Tags darauf, während die
ersten Sonnenstrahlen in den Regenwald vorzudringen begannen, kam aus
der Höhle ein Wesen hervor, wie es noch nirgendwo auf der Welt
auch nur eine Menschenseele zu sehen bekommen hat. Meine beiden Begleiterinnen
und ich, gut getarnt, mit reichlich Bananenblättern, folgten dem
uns noch unbekannten Wesen und konnten es, über den ganzen Tag
hinweg, hinreichend beobachten. Damit du eine Vorstellung von seiner
ungewöhnlichen wie auch überaus prachtvollen Erscheinung bekommst,
mache ich den Versuch, dieses wundersame Wesen für dich zu beschreiben.
Manche würden es sicherlich für einen Greifvogel halten, wenn
sie sehen könnten, wie es am Morgen, wenn es die ersten Startvorbereitungen
des Tages trifft, seine enormen, gefiederten Schwingen in voller Spannweite
ausbreitet. Andere wiederum würden bestimmt sagen, jenes Wesen
sei eine Raubkatze, ein eleganter Jäger mit seidig glänzendem
Fell, wenn sie beobachten könnten, wie es, nach der Mittagsruhe,
seine vier eleganten gepardenähnlichen Beine streckt und dann mit
großen Sätzen und mit atemberaubender Geschwindigkeit seiner
Beute nachjagt. Einige wenige würden sich wohl von seinem Aussehen
noch mehr täuschen lassen und sie würden sagen, wenn sie sehen
könnten, wie es sein, im Nacken sitzendes, feingliedriges, durchscheinendes
Flügelpaar und seine Fühler putzt, dieses Wesen sei eine Libelle,
wobei sie ihre Aussage sofort wieder zurückziehen würden,
denn, wenn dieses Wesen sie ansieht, tut es dies nicht mit den Facettenaugen
eines Insekts, sondern mit wunderschönen, strahlend blauen Menschenaugen.
Als es dämmerte und im tropischen Regenwald sich allmählich
alles wieder beruhigte, setzte das wundersame Wesen, gepardenähnlich,
zum Sprung an. Mitten im Sprung befindlich breitete er seine Insektenflügel
aus, die Luft begann zu flirren und mit einem klangvoll brummenden Fluggeräusch
entschwand es unseren Blicken.
Über
mehrere Wochen hinweg studieren wir nun schon die Verhaltensweisen des
von mir entdeckten Wesens. Meine beiden Begleiterinnen haben ihm auch
schon einen Namen gegeben. Seit dem Tag, an dem wir Zeugen wurden, wie
das wundersame Wesen einen nicht enden wollenden Gleitflug, über
einen der weißen Sandstrände, absolvierte, wird es von uns
nur noch der liebliche Strandgleiter genannt. Der liebliche Strandgleiter
sieht zwar, wenn er in die Lüfte aufsteigt, und seine gepardenähnlichen
Beine nach unten baumeln lässt, nicht sehr anmutig aus und er ist
bei weitem nicht der beste Flieger auf der Insel, doch er kann stundenlang
am Strand entlang gleiten, ohne dass er auch nur einen Millimeter an
Höhe verlieren würde. Er gleitet auf so unnachahmliche Weise
über dem weißen Sand dahin, dass sogar ein Großteil
der Tiere, die hier auf der Insel beheimatet sind, dem lieblichen Strandgleiter
bei seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Gleiten, unermüdlich
zusehen. Sie sitzen am Strand, die großen Palmen im Rücken,
sehen aufs Meer hinaus und warten gespannt darauf, dass der liebliche
Strandgleiter an ihnen vorbeisegelt. Anderswo wären die Tiere,
vor allem die Vögel, bestimmt neidisch auf den lieblichen Strandgleiter
gewesen, weil er, obwohl er nichts anderes kann, als zu gleiten, solche
Aufmerksamkeit erregt und sie würden ihn vermutlich sogar davonjagen,
aber hier, auf unserer Insel, fällt es keinem einzigen der Tiere
ein, etwas derartiges auch nur zu versuchen. Auffallend, aber mir durchaus
verständlich, ist, dass die Tiere sich ausschließlich für
jenen Augenblick interessieren, in dem der liebliche Strandgleiter an
ihnen vorbeischwebt, also, für seinen unnachahmlichen Gleitflug.
Sobald der liebliche Strandgleiter sein Landemanöver durchführt,
und er tut dies, indem er ziemlich ungelenk seine vier Beine ausstellt,
und mit weit überhöhter Geschwindigkeit auf dem weißen
Sand aufsetzt, gehen die Tiere schon längst wieder ihrer Wege.
Jedes Mal, wenn der liebliche Strandgleiter gelandet ist, blickt er
sich nach allen Seiten nach seinem Publikum um, doch selbst die Meeresbewohner,
die noch kurz zuvor alle dicht unter der Wasseroberfläche versammelt
gewesen waren, um einen leidlichen Eindruck von dem, was sich am Himmel
abspielte zu erhalten, sind bereits wieder in tiefere Wasserschichten
abgetaucht, so dass auch sie vom Landemanöver des lieblichen Strandgleiters
nurmehr einen leichten Schattenwurf wahrnehmen, ohne jedoch daraus weitere
Schlüsse bezüglich der Qualität seines Manövers
ziehen zu können. Ich vermute, bis heute hat noch kein einziges
der hier auf dieser Insel oder in den dazugehörigen Küstengewässern
lebenden Tiere, weder das Starten noch das Landen des lieblichen Strandgleiters
verfolgt, und dennoch hegt wohl keines von ihnen auch nur den leisesten
Zweifel, dass dieser Vorgang ebenso lieblich anzuschauen sein würde,
wie es der eigentliche Gleitflug des lieblichen Strandgleiters immer
schon gewesen war. Auch der liebliche Strandgleiter selbst weiß
wohl nichts von seinen ziemlich lächerlich anzuschauenden Start-
und Landeversuchen. Selbstbewusst faltet er nach jeder Landung (auch
nach jeder seiner zahlreichen kapitalen Bruchlandungen) seine beachtlichen
Flügel zusammen und begibt sich unverzüglich auf die Jagd.
Fliegen macht hungrig, was jeder weiß, der es schon einmal selbst
versucht hat.
Leider
wird die Schiffspassage nach Europa für mich erst in einigen Tagen
möglich sein und sie wird, wie du weißt, mindestens zwei
ganze Wochen dauern, so dass ich auch heuer nicht mit dir und Mama Weihnachten
feiern kann. Morgen wird hier, auf der Insel, ein Schnellboot vom Festland
erwartet, um unseren Proviant zu bringen und unsere Post abzuholen.
Hoffentlich erreicht dich, lieber Frieder, mein Brief noch rechtzeitig,
zu Weihnachten.
Viele
liebe Grüße und Frohe Weihnachten
Papa
Planks Vorhaben, zu Weihnachten, ein Exemplar des lieblichen Strandgleiters
für Frieder präparieren zu lassen, hatte in der Vorweihnachtszeit
bereits konkrete Formen angenommen. Er war sogar schon beim Präparator
gewesen um anzufragen, was es koste, ein Tier nach beiliegender Skizze
zu präparieren, doch er glaubte sich zu erinnern, dass Frieder
sich nicht besonders für exotische Tiere interessiert. Wenn Plank
die Augen schließt, glaubt er Frieders Stimme hören zu können.
Nachrichten heute mal zur Prime Time. Die Studentinnen der Medizin,
unter den Cashmere-Decken, haben ihre Körper, mittlerweile ineinander
verschlungen. Plank bleibt außen vor. Jerusalem unter einer dicken
Schneedecke begraben, liest die blonde Sprecherin. Dann eine Live-Schalte.
Im Biblischen Zoo seien sieben Tiere erfroren. Tausende Haushalte seien
ohne Strom. Im Nachrichtenblock nichts, was Plank nicht schon gewusst
hätte. Nachts sind die Nachrichtensprecherinnen besser als zur
Prime Time. Nicht hübscher, aber sachlicher. Kein Gehabe wie bei
Kindergärtnerinnen, die einem ständig ihre gute Laune aufzudrängen
versuchen, was er als sehr angenehm empfindet. Trotzdem Prime Time.
Das Wetter wird auch in den nächsten Tagen eher warm bleiben. Keine
Änderung in Sicht, verspricht die blonde Sprecherin. Genaueres,
gleich, von der Wetter-Fee. Anschließend ein investigatives TV-Magazin
mit Hintergrundinformationen zu den diesjährigen, unerwartet hohen,
Verkaufszahlen im Weihnachtsgeschäft des Einzelhandels. Plank nimmt
sich vor, heute Abend sein Apartment vollständig von den Überresten
der gestrigen Party zu befreien.
Die Türklingel, zweimal, sehr schrill. Die beiden Studentinnen,
immer noch unter den Cashmere-Decken. Lydia steht mit ihrem Sohn vor
der großen in die Putzfläche eingelassenen Messingplatte.
Sie hält einen etwa schulterhohen, bereits geschmückten, künstlichen
Weihnachtsbaum im Arm. Weil die Zweige aus Draht gefertigt sind, konnte
sie diese, für den Transport, alle, Platz sparend, nach oben biegen.
Vor Ort müsste es für sie ein Leichtes sein, den Weihnachtsbaum
wieder zurechtzumachen. Frieder drückt noch einmal auf den Klingelknopf
in der obersten Reihe. Die Sprechanlage beginnt zu knacken. Plank. Kaum
hat Frieder seinen Namen hineingesprochen, betätigt Plank den Bakelitknopf
des elektrischen Türöffners und lässt die beiden ins
Treppenhaus. Ein Weihnachtsbaum steht, an dem kaltblaue Diodenlichter
blinken.
Ende
22.12.13