Die
Frau des Vergolders
von
Günter Schweigard
Im
Schutze der Nacht, während mehrere hundert Weihnachtssänger
und -Sängerinnen, in andächtiger Stimmung, die Liedzeile
Der Heiland ist geboren - Freu dich du Christenheit! - Sonst wärn
wir all verloren
anstimmten, war es, vor Jahresfrist, in der,
direkt an den großen Platz, dem sogenannten Karree angrenzenden,
Parkanlage zu zahlreichen sexuellen Übergriffen, auf einheimische
Frauen, gekommen. Nicht einmal den neuen Besucherrekord, der an diesem
Abend erreichten worden war, wollte die Lokalpresse tags darauf noch
erwähnt wissen; alles drehte sich nur noch um den zunehmend spürbaren,
doch nun erstmals offen zutage getretenen, Verfall der Moral in der
Stadt und im Besonderen, um die, seit längerer Zeit schon beobachtbare,
allzu freizügige Lebensweise des weiblichen Geschlechtes. Nach
Begutachtung anonymer Videomitschnitte, der damaligen Ereignisse, die
in den sozialen Netzwerken kursierten, und die längst zu offiziellen
Beweismitteln erhoben worden waren, ging man, die betroffenen Frauen
mit Verachtung strafend, sogar soweit, diese selbst, für die begangenen
Straftaten verantwortlich zu machen. Wie von einer, anfangs noch überschaubaren,
Gruppe konservativ denkender Männer, zu hören war, seien die
Frauen, wohl verführt durch die in dieser Nacht herrschenden milden
Temperaturen, viel zu leicht bekleidet ausgegangen, und hätten
somit die späteren sexuellen Übergriffe geradezu provoziert.
Fahnenschwenkend, Schlachtrufe skandierend, und mit Hilfe reichlich
verabreichter alkoholischer Getränke, in Stimmung gekommen, hielt
eben diese, nun stetig größer werdende, Gruppe von Männern
das Karree über die gesamte Weihnachtszeit hinweg besetzt. Ihre,
mittlerweile zu einiger Berühmtheit gelangten, Anführer hielten
mehrmals täglich vielbeklatschte Reden, mit unverkennbar propagandistischer
Wirkung, bis schließlich der Ruf, nach Wiedereinführung von
Recht und Ordnung, unüberhörbar, bis in die entlegensten Randbezirke
der Stadt hinausschallte.
Die Stadtverantwortlichen, die dem allem nichts entgegenzusetzen wussten,
- was nicht verwundert, weil sie bisher lediglich die Bühnenbildner
der Erlebnisgesellschaft gespielt hatten - wurden, in der Folge, mit
dem Vorwurf, nicht mehr in ausreichendem Maße für die Sicherheit
der Bürgerinnen und Bürger sorgen zu können, derart in
die Enge getrieben, dass sie bereits nach allerkürzester Gegenwehr
das Rathaus räumten und sich, ohne auch nur ein weiteres Mal in
der Öffentlichkeit aufgetreten zu sein, im Kreise ihrer Familien
verbarrikadierten.
Getragen von der überwältigenden Mehrheit der männlichen
Stadtbewohner wurden nun, zügig, Maßnahmen zur Umsetzung
eines verstärkten Sicherheitsangebotes beschlossen. Darüber
hinaus wurde allen Frauen eine Kennzeichnungspflicht auferlegt, die,
eindeutig und für jedermann sichtbar, ihre momentane Bereitschaft
für sexuelle Handlungen Ausdruck verleihen sollte. Anfängliche
Versuche mittels auf der Kleidung aufgenähter unterschiedlicher
Symbole, erwiesen sich als wenig praktikabel. Trotz Kennzeichnungspflicht
war es bereits in den Sommermonaten, während der heißen Tage,
zu folgenschweren Missverständnissen, über die Bereitschaft
zu sexuellen Handlungen, vor allem, von unerfahrenen jungen Mädchen
gekommen, so dass diese sich der Zudringlichkeiten überall lauernder,
abenteuerlustiger Sommerfrischler erwehren mussten. Diese Vorkommnisse
veranlassten die neu eingesetzten Stadtverantwortlichen dazu, einen
Ideenwettbewerb auszuschreiben, der an alle Kunstschaffenden, in Zusammenarbeit
mit der Industrie und dem Handwerk, gerichtet war, und der, möglichst
innovative Lösungen aufzeigen sollte, die, auf der einen Seite
eine unmissverständliche Kennzeichnung möglich machen, andererseits
aber auch der Natur der Frau gerecht werden sollten.
Der
Tag war für den Vergolder sehr anstrengend gewesen. Frühmorgens
schon war eine erste Kundin in seinem Atelier erschienen, um sich jener,
mittlerweile für alle Frauen verpflichtend vorgeschrieben, über
mehrere Stunden dauernden Prozedur der Kopfbeschichtung zu unterziehen,
und es begann schon dunkel zu werden, als der Vergolder bei der wohl
letzten Kundin des heutigen Tages, Hand anlegte. Gelegentlich unterbrach
er den Beschichtungsvorgang, um hinunterzublicken, auf die sich stetig
vergrößernde Menschenmenge, auf dem Karree, das er von seinem
Atelier aus gut übersehen konnte. Bereits am frühen Abend
hatte sich auf dem Karree, trotz der unerwartet eingetretenen Kälte,
eine große Anzahl von Männern unterschiedlichen Alters versammelt,
um feierlich den ersten Jahrestag, zum Gedenken an die schändlichen
Vorfälle, zu denen es, im letzten Jahr, am Rande des traditionellen
Weihnachtssingens, gekommen war, zu begehen. Der Vergolder betätigte
den Fußhebel eines umgebauten Friseursessels, worauf die Sitzfläche
nach oben fuhr und seine Kundin das Ergebnis der Kopfbeschichtung in
der großen Spiegelwand betrachten konnte. Der Vergolder hielt,
hinter ihr stehend, einen zweiten Spiegel hoch. So konnte seine Kundin
auch die Rückansicht ihres kahlgeschorenen Schädels betrachten,
der in einer Farbe glänzte, die irgendwo zwischen Gold und Rubinrot
lag.
Nachdem
der Vergolder den ersten Preis für seinen Wettbewerbsbeitrag, zur
Kennzeichnung der Frauen, erhalten hatte, waren seine Auftragsbücher
mehr als voll. Neben seiner bisherigen Arbeit, die darin bestand, unterschiedlichsten,
meist aus Holz bestehenden Objekten, durch Auflegen von Blattgold, eine
neue Wertigkeit zu verleihen, war er nun auch der einzige Vergolder
in der Stadt, der die nötige Fachkenntnis besaß, um bei den
Frauen Kopfbeschichtungen auszuführen. Die Idee des Vergolders,
die Bereitschaft der Frauen, für mögliche sexuelle Handlungen,
mittels einer, sich in der Farbe verändernden, Kopfbeschichtung
zu kennzeichnen, hatte sowohl die Wettbewerbsjury, als auch die Stadtverantwortlichen
sofort überzeugt. Das Verfahren, welches der Vergolder, zusammen
mit einem befreundeten Chemiker, entwickelt hatte, sah vor, die Schwankungen
des sich verändernden Östrogenspiegel der Frauen, mittels
einer, auf der Grundlage von Geheimrezepturen hergestellten, Kopfbeschichtung,
für alle Männer unmissverständlich sichtbar zu machen.
Hierfür mussten den Frauen zuallererst die Kopfhaare geschoren
werden. Eine spezielle Tinktur, drei Tage und drei Nächte auf der
Kopfhaut einwirkend, verhinderte, dauerhaft, das Nachwachsen weiterer
Haare. Anschließend konnte dann das kahlgeschorene Haupt mit einem
mehrschichtigen Überzug versehen werden, der die Eigenschaft hatte,
abhängig vom jeweiligen Erregungszustand der Frau, in einem drachenblutähnlichen
Rubinrot oder aber in reinstem Gold zu erstrahlen; noch dazu fand der
Farbübergang fließend statt, so dass die Frauen ihrerseits
bereits die kleinste Veränderung ihres Hormonspiegels sofort erkennen
und daraufhin ihr Ausgehverhalten entsprechend anpassen konnten.
Der
Vergolder löste den Verschluss des Umhanges, der das tiefe Dekolleté
seiner Kundin vor etwaigen Farbverunreinigungen geschützt hatte.
Ihr Haupt glänzte nun in schönstem Gold, so dass er davon
absehen musste, sie zu sexuellen Handlungen zu überreden. Er verabschiedete
sich vornehm und ging zurück zu seinem Arbeitsplatz, wo er die
Vergoldungsarbeit am kunstvoll geschnitzten Holzrahmen eines Louis-Quatorze-Spiegels
zu Ende führte, indem er, mit fachmännischer Eleganz, mit
einem flachen Fehhaar-Pinsel, ein letztes hochkarätiges Goldblatt
auftrug.
Abermals blickte er hinunter auf das Karree. Vor dem Grandhotel, das
unmittelbar an der Längsseite des Karrees eine großzügige
Vorfahrt und auch einen herrschaftlichen, von stilvoll gekleideten Empfangsdienern
flankierten, Eingang besaß, wurde von mehreren Security Guards
eine Gruppe Frauen zusammengetrieben, deren Häupter rubinrot glänzten.
In der Hotellobby wurden sie bereits von einer Gruppe von Männern
mittleren Alters erwartet.
Da spürte der Vergolder die Sorge um seine Frau wieder aufkeimen,
denn die Frau des Vergolders war ausgegangen, um eine Gruppe historischer
Krippenfiguren, die er gestern fertig gestellt hatte, an den, in einer,
am Stadtrand gelegenen repräsentativen Villa wohnenden, Stofffabrikanten
auszuliefern. Bis zur Stunde war die Frau des Vergolders noch nicht
wieder zurückgekehrt - obwohl sie doch wissen musste, dass ein
großer Renaissance-Wandspiegel, der fertig restauriert dastand,
ebenfalls heute noch an seinen Besitzer ausgeliefert werden musste.
Der Vergolder bereute es mittlerweile, seine Frau überhaupt weggeschickt
zu haben; gerade heute, wo, im vorweihnachtlichen Trubel, auf den Straßen
etliche Männer unterwegs waren, die nach Frauen, deren Haupt im
rubinroten Schein des Drachenblutes glänzte, Ausschau hielten,
und gerade heute, wo das Haupt seiner Frau, welches am Vormittag noch
einen makellosen goldfarbenen Überzug hatte, sich, kurz bevor sie
aus dem Haus gehen wollte, schon in ein leichtes Rot hinein, zu verfärben
begann. Auch nachdem der Vergolder, einem täglichen Ritual folgen,
seinen Arbeitsplatz gereinigt hatte, war seine Frau immer noch nicht
zurückgekehrt und seine Besorgnis darüber war nun so stark
geworden, dass er beschloss, sich auf die Suche nach ihr zu machen.
Notdürftig wickelte er den großen Renaissance-Wandspiegel
in einen Bogen Packpapier, klemmte sich das Spiegelpaket unter den Arm
und verließ sein Atelier.
Als er auf die Straße trat, war das Grandhotel bereits vollständig
durch Security Guards abgeriegelt worden. Er ging, entlang der Schaufenster
mehrerer Feinkostgeschäfte zur nächsten Straßenecke.
Durch die Glasfassade eines Kaffeehauses hindurch sah er stilvoll gekleidete
ältere Herren, die mit Frauen flirteten, deren Schädel rubinrot
glänzten.
Unschlüssig, ob er zum Wohnsitz des Stofffabrikanten hinausfahren
sollte, bog der Vergolder in die Straße ein, die zur Haltestelle
der Stadtbahn führte. Dabei hatte er nicht bemerkt, dass er von
einem kräftigen Burschen in Security Uniform beobachtetet wurde,
der dort Schmiere stand. Der Bursche, der wohl ein Provinzler war, glaubte
im Vergolder einen alten Schulkameraden wiedererkannt zu haben, denn
er rief ihm seinen zweiten Vornamen, Augustin, zu. Der Vergolder ging
zu ihm hin. Der Bursche schüttelte ihm freudig die Hand und wollte
Erinnerungen austauschen. Der Vergolder konnte sich jedoch nicht an
den Burschen erinnern, der Max zu heißen vorgab, und er suchte
einen Vorwand, um sich zu verabschieden, da ihn die wieder in sein Bewusstsein
tretende Sorge um seine Frau trieb. Da kam ein weiterer Mann, wohl ein
höherrangiger Security Guard, um die Ecke, der sich neugierig das
Spiegelpaket des Vergolders besah. Er glaubte wohl, der Vergolder sei
einer der meist gut getarnten Widerstandskämpfer, die gegen die
neuen Stadtverantwortlichen etwas im Schilde führen und auch vor
Waffengewalt nicht zurückschrecken würden. Schließlich
wollte er wissen, was der Vergolder da habe. Paket! Spiegelpaket, aber
er sei in Eile, entgegnete dieser. Im selben Augenblick sah der Vergolder
seine Frau aus der Stadtbahn steigen; direkt hinter ihr, vier Männer,
die sie eskortierten, und die sich bei genauerem Hinsehen als Stadtverantwortliche
entpuppten. Glücklicherweise entwickelte sich in unmittelbarer
Nähe eine Schlägerei zwischen zwei Männern, die wegen
einer Frau, deren Schädel sich im Stadium der beginnenden Verfärbung
ins Rubinrote befand, in Streit geraten waren. So konnte der Vergolder,
die allgemeine Verwirrung ausnutzen, und, von den beiden Security Guards
unbehelligt, um die Ecke biegen, wo eiskalter Wind in die Breitseite
seines Spiegelpaketes fuhr. Er machte einen Schritt zurück und
viel unkontrolliert über ein altes Fahrrad, welches jemand wohl
während einer überstürzter Flucht liegengelassen hatte.
Wieder auf den Beinen, sprach er, auf gut Glück, zwei ihm entgegen
kommende Passanten an, ob sie seine Frau nebst Eskorte gesehen hätten,
worauf diese in eine Straße hineindeuteten, die zurück zum
Karree führte. Nachdem der Vergolder seine Frau und die vier Stadtverantwortlichen
eingeholt hatte, wechselte er geistesgegenwärtig auf die andere
Straßenseite, um sich nicht verdächtig zu machen; so konnte
er ihnen weiterhin unbemerkt folgen, bis sie schließlich, über
das, sich schon beträchtlich leerende Karree hinweg, auf das Grandhotel
zusteuerten. Eiligen Schrittes passierten die vier Männer mit der
Frau des Vergolders die, von Security Guards streng bewachte, Zugangsschleuse.
Im Schein des Kronleuchters der Hotellobby sah der Vergolder das Haupt
seiner Frau in einem drachenblutähnlichen Rubinrot gänzen.
Vom Grandhotel her näherte sich ein auf eigenartige Weise kräftig
gebauter hochrangiger Stadtverantwortlicher. Sein Gang war schwerfällig,
seine Beine bewegten sich bei jedem Schritt, mit einem Schwung nach
außen, der nur von der Hüfte auszugehen schien, ohne dass
auch nur die kleinste Beugung des Knies zu bemerken gewesen wäre.
Der Mann verlangsamte seinen Schritt und blieb schließlich direkt
neben dem Vergolder stehen. Bei genauerem Hinsehen konnte der Vergolder
eine halbautomatische Waffe ausmachen, die der Stadtverantwortliche
nur notdürftig unter seinem Mantel verborgen hielt. Ohne ihn anzublicken
teilte der hochrangige Stadtverantwortliche dem Vergolder mit, dass
dessen Frau, von einem am Stadtrand wohnenden Stofffabrikanten angezeigt
wurde, da sie, unter dem Vorwand, bei ihm historische Krippenfiguren
ausliefern zu wollen, freimütig, dessen Villa betreten hatte, sie
dann aber, obwohl ihr Haupt in drachenblutähnlicher rubinroter
Farbe geglänzt habe, nicht zur Ausübung sexueller Handlungen
bereit gewesen war. Noch bei der Ankunft mehrerer umgehend herbeigeeilten
Stadtverantwortlichen sei die rubinrote Farbe der Kopfbeschichtung noch
eindeutig zu erkennen gewesen, und so sei es unumgänglich gewesen,
die Frau des Vergolders zu einem eingehenden Verhör ins Grandhotel
zu bringen. Da es sich bei seiner Frau um die erste Verfehlung dieser
Art handle, und man, darüber hinaus, die Fähigkeiten des Vergolders
über alle Maßen schätze, würde seine Frau, vorausgesetzt
sie würde sich während der folgenden Nacht kooperativ zeigen,
spätestens am morgigen Heiligabend, wieder in dessen Obhut übergeben.
Weil der Vergolder seine Frau liebte, und um Schlimmeres zu verhindern,
bedankte er sich, mit einer Stimme, die nicht die eine zu sein schien,
bei dem hochrangigen Stadtverantwortlichen für dessen zuvorkommendes
Verhalten, worauf dieser sich grußlos in Richtung Grandhotel verabschiedete.
Als der Vergolder das Atelier betrat, stieß er, beim Hineintragen
des Spiegelpaketes, mit einer Ecke heftig an den eisernen Türrahmen
und ruinierte dabei einen erheblichen Teil der Randvergoldung. Wie lange
er geschlafen hatte, konnte der Vergolder nicht sagen, aber es musste
nun bereits Heiligabend sein, denn seine vollschlanke Frau reckte, vor
ihm stehend, beide Arme in die Höhe, so dass er ihre Achselhöhlen
zu sehen bekam, und als sie zu ihm ins Bett stieg, sich rittlings auf
ihn setzte und er sah, wie sich die weichen Linien ihres Rückens
sanft bewegten, und ihr Schädel, im festlichen Schein der ins Zimmer
dringenden Weihnachtsbeleuchtung, in makellosem Rubinrot glänzte,
wusste er, dass er seine Frau, in diesem Zustand, die nächsten
Tage nicht würde ausgehen lassen können.
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24.12.2016