Wer
etwas von der Idee »Europa« spüren will, der solle
Soldatenfriedhöfe besuchen, heißt es. Er kann aber auch
eine Erzählung des verehrten Herrn Voltaire zur Hand nehmen,
die da heißt: »Geschichte der Reisen Scarmentados«.
Darin unternimmt der so seltsam benannte junge Mann Reisen, aus dem
einfachen, aber heute wohl nur noch schwerlich nachzuvollziehenden
Grunde, seinen Wissensdurst stillen zu wollen und die Wahrheiten über
unseren Zustand auf Erden zu erfahren!
Vielleicht
ist uns das Reisen abhandengekommen? Vielleicht aber auch nur der
Wissensdurst. Die Welt ist klein geworden, der Kopf zu voll, die Fakten
auf dem Nachttisch, zumindest auf dem darauf ruhenden Laptop abgreifbar.
Da bleibt keine Kehle mehr trocken. Wer den Computer öffnet wird einem
Fakten-Boarding unterzogen, dass es nicht wundern mag, wenn man alsbald
die Schnauze voll hat und auf Wissensdurst nichts gibt.
Das
eigene Bett muss nicht verlassen werden, um Bescheid zu wissen, über
die Weltöffentlichkeit. Alles reicht bis zu uns heran, alles, das
geschieht, greift scheinbar bis in unser Leben tief hinein. Dass es
gar schwerer wird, uns zu verbergen, als uns zu zeigen. Wozu also
noch ausfahren, wozu noch verreisen? Wir Reisen - wenn man so will
- virtuell, tagtäglich mit unserem Smartphone in der Hand ohne uns
vom Fleck bewegen zu müssen.
Dennoch
gibt es möglicherweise Gründe für eine physische Bewegung, für das
wortwörtliche Ab-Fahren einer Strecke und das tatsächliche Be-Greifen.
Vielleicht lässt sich nur auf diese alte Weise so etwas, wie die Idee
»Europa« nachvollziehen und verstehen?! Indem man einen
Fuß vor den anderen setzt, ganz physisch und handgreiflich ausfährt,
um zu begreifen, was einen umgibt. Wenn man die Schnauze voll hat,
von all den Fakten, die man einem ungefragt ins Haus kübelt, dann
sollte das doch ein Grund mehr sein, sich aufzumachen, um Erde und
Asphalt unter den Füßen zu spüren und den Winden und Wolken zu folgen
(anstatt einer Smartphone-App!) Dann sollte man wieder Menschen begegnen
und selbst entscheiden, ob sie einem fremd vorkommen, oder doch ähnlich
sind, sympathisch oder unangenehm erscheinen. Die Straßen und Wege
gehen, die Berge überqueren und auf das Meer hinausschauen, das uns
umgibt, die Zeugen aufsuchen, die von einer Vergangenheit erzählen,
die auch unsere Geschichte sein könnte, das sollte Auftrag sein für
einen jeden jungen Geist.
Leider
ist bis jetzt nichts aus der Idee des Europaparlamentes geworden,
jedem Volljährigen ein Inter-Rail-Ticket zum 18. Geburtstag zu schenken.
Dabei wäre genau das, der Moment, in dem man unbefangen und frei losziehen
könnte, um zu entdecken, wovon man so oft hörte, aber sich beileibe
keine Vorstellung machen konnte: Von Europa, der abstrakten, nicht
eindeutig abgrenzbaren, kontinentalen Halbinsel, der stierreitenden
Jungfrau, die sich Zeus nicht zu verweigern vermochte, der seltsam
uneinigen Einheit von vielen, dem Vielvölker-Staat? Es ist die Zeit,
in der man in Ruhe, - während man auf öden Bahnhöfen, von denen die
Welt noch nie gehört hat, der Weiterreise harrt, oder in verschwitzten,
unklimatisierten Zugabteilen einem unbekannten Ziel entgegen döst
- und man einfach mal die Zeit hat, drüber nachzudenken, was Europa
eigentlich ist und was es bedeuten kann.
Die Idee »Europa« stammt nämlich von Leuten, die sich
mit Muskelkraft um ihr Überleben kümmern mussten. Sie stammt von Menschen,
die bereit waren ihr Blut dafür zu vergießen, dass man einmal sorglos
- das war keineswegs immer so - durch die Wälder streifen kann. Sie
stammt von Fischern und Bauern, denen Grenzen immer schon als willkürlich
vorkamen. Die Idee »Europa« ist alt geworden, mit uns,
den Analogen, die wir die letzten waren, die ausfuhren, losliefen
und es einfach nur faszinierend fanden, unter stillgelegten Schlagbäumen
unbehelligt hindurchzufahren.
Wir
liebten die dramatisch, lieblich oder ruppig klingenden - auf jeden
Fall unverständlichen - Sprachmelodien, die zerknitterten, unbekannten
Geldscheine fremder Nationen. Auch die andersartigen Gesichter, Nasen
und Münder und das Lachen und Zetern, das man, Gott sei Dank, nicht
verstand, mochten wir noch viel mehr. Das Fremde, auf das man zuging,
das so nah war, geheimnisvoll, oder sogar verheißungsvoll, lockte
und wir frohlockten; - ohne zu wissen, wie vielen Menschen wir dafür
dankbar sein mussten, weil es allemal höchst unwahrscheinlich ist,
dass Ideen Wirklichkeit werden. Das geschieht meist nur dann, wenn
einfache Menschen lange Zeit bereit sind, alles dafür zu geben.
Und
vielleicht würde die eine oder der andere Inter-Railer bei Gelegenheit
dann doch mal an einem Soldatenfriedhof vorbeischauen.
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