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Die Kolumne
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17.06.17 Idee »Europa«: Reisen
17.04.17 Alternative Fakten
17.03.17 Ewnährung unsere Religion
17.02.17 Eine Tote viele Verwundete
17.01.17 Amazon, übernehmen Sie!
   

 

Die Idee »Europa«
Eine Geschichte des Reisens

von Jürgen Mick

Wer etwas von der Idee »Europa« spüren will, der solle Soldatenfriedhöfe besuchen, heißt es. Er kann aber auch eine Erzählung des verehrten Herrn Voltaire zur Hand nehmen, die da heißt: »Geschichte der Reisen Scarmentados«. Darin unternimmt der so seltsam benannte junge Mann Reisen, aus dem einfachen, aber heute wohl nur noch schwerlich nachzuvollziehenden Grunde, seinen Wissensdurst stillen zu wollen und die Wahrheiten über unseren Zustand auf Erden zu erfahren!

Vielleicht ist uns das Reisen abhandengekommen? Vielleicht aber auch nur der Wissensdurst. Die Welt ist klein geworden, der Kopf zu voll, die Fakten auf dem Nachttisch, zumindest auf dem darauf ruhenden Laptop abgreifbar. Da bleibt keine Kehle mehr trocken. Wer den Computer öffnet wird einem Fakten-Boarding unterzogen, dass es nicht wundern mag, wenn man alsbald die Schnauze voll hat und auf Wissensdurst nichts gibt.

Das eigene Bett muss nicht verlassen werden, um Bescheid zu wissen, über die Weltöffentlichkeit. Alles reicht bis zu uns heran, alles, das geschieht, greift scheinbar bis in unser Leben tief hinein. Dass es gar schwerer wird, uns zu verbergen, als uns zu zeigen. Wozu also noch ausfahren, wozu noch verreisen? Wir Reisen - wenn man so will - virtuell, tagtäglich mit unserem Smartphone in der Hand ohne uns vom Fleck bewegen zu müssen.

Dennoch gibt es möglicherweise Gründe für eine physische Bewegung, für das wortwörtliche Ab-Fahren einer Strecke und das tatsächliche Be-Greifen. Vielleicht lässt sich nur auf diese alte Weise so etwas, wie die Idee »Europa« nachvollziehen und verstehen?! Indem man einen Fuß vor den anderen setzt, ganz physisch und handgreiflich ausfährt, um zu begreifen, was einen umgibt. Wenn man die Schnauze voll hat, von all den Fakten, die man einem ungefragt ins Haus kübelt, dann sollte das doch ein Grund mehr sein, sich aufzumachen, um Erde und Asphalt unter den Füßen zu spüren und den Winden und Wolken zu folgen (anstatt einer Smartphone-App!) Dann sollte man wieder Menschen begegnen und selbst entscheiden, ob sie einem fremd vorkommen, oder doch ähnlich sind, sympathisch oder unangenehm erscheinen. Die Straßen und Wege gehen, die Berge überqueren und auf das Meer hinausschauen, das uns umgibt, die Zeugen aufsuchen, die von einer Vergangenheit erzählen, die auch unsere Geschichte sein könnte, das sollte Auftrag sein für einen jeden jungen Geist.

Leider ist bis jetzt nichts aus der Idee des Europaparlamentes geworden, jedem Volljährigen ein Inter-Rail-Ticket zum 18. Geburtstag zu schenken. Dabei wäre genau das, der Moment, in dem man unbefangen und frei losziehen könnte, um zu entdecken, wovon man so oft hörte, aber sich beileibe keine Vorstellung machen konnte: Von Europa, der abstrakten, nicht eindeutig abgrenzbaren, kontinentalen Halbinsel, der stierreitenden Jungfrau, die sich Zeus nicht zu verweigern vermochte, der seltsam uneinigen Einheit von vielen, dem Vielvölker-Staat? Es ist die Zeit, in der man in Ruhe, - während man auf öden Bahnhöfen, von denen die Welt noch nie gehört hat, der Weiterreise harrt, oder in verschwitzten, unklimatisierten Zugabteilen einem unbekannten Ziel entgegen döst - und man einfach mal die Zeit hat, drüber nachzudenken, was Europa eigentlich ist und was es bedeuten kann.

Die Idee »Europa« stammt nämlich von Leuten, die sich mit Muskelkraft um ihr Überleben kümmern mussten. Sie stammt von Menschen, die bereit waren ihr Blut dafür zu vergießen, dass man einmal sorglos - das war keineswegs immer so - durch die Wälder streifen kann. Sie stammt von Fischern und Bauern, denen Grenzen immer schon als willkürlich vorkamen. Die Idee »Europa« ist alt geworden, mit uns, den Analogen, die wir die letzten waren, die ausfuhren, losliefen und es einfach nur faszinierend fanden, unter stillgelegten Schlagbäumen unbehelligt hindurchzufahren.

Wir liebten die dramatisch, lieblich oder ruppig klingenden - auf jeden Fall unverständlichen - Sprachmelodien, die zerknitterten, unbekannten Geldscheine fremder Nationen. Auch die andersartigen Gesichter, Nasen und Münder und das Lachen und Zetern, das man, Gott sei Dank, nicht verstand, mochten wir noch viel mehr. Das Fremde, auf das man zuging, das so nah war, geheimnisvoll, oder sogar verheißungsvoll, lockte und wir frohlockten; - ohne zu wissen, wie vielen Menschen wir dafür dankbar sein mussten, weil es allemal höchst unwahrscheinlich ist, dass Ideen Wirklichkeit werden. Das geschieht meist nur dann, wenn einfache Menschen lange Zeit bereit sind, alles dafür zu geben.

Und vielleicht würde die eine oder der andere Inter-Railer bei Gelegenheit dann doch mal an einem Soldatenfriedhof vorbeischauen.

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