Versuchen
Sie mal jemanden zum Essen einzuladen, den sie nicht kennen. Mediterane
Küche, chinesisch oder lieber gut bürgerlich? Das ist schon
lange nicht mehr genug Differenzierung. Fast Food, nein Danke!? Nur
noch vegetarisch oder gar vegan? Oder doch ein Deluxe-Cheesburger
vom Koberind, deftig und gnadenloser Fleischverzehr? Keine Kohlenhydrate
und nur Obst, wie in der Steinzeit oder rein synthetisch, genmanipuliert
oder schadstofffrei, Fair Trade oder artgerecht produziert? Wir müssen
eingestehen, es ist nicht unkompliziert, jemanden zum Essen einzuladen
ohne ihn dabei in eine peinliche Situation zu bringen oder gar seine
Gefühle zu verletzen. Aber das will ja niemand, also was tun?
Das geht ja schnell, Gefühle zu verletzen. Religiöse Gefühle,
humane Gefühle und auch Ernährungsgefühle! Der Zusammenhang
von Religion und Nahrungsaufnahme besteht seit den ersten Tagen der
Menschheit. Die richtige Ernährung ist sozusagen zentrales Thema
einer jeden Religion. Und Religion entwickelt sich rundum Verzehrvorschriften.
Selbst in vollständig säkularisierten Kreisen aber endet
bei der Nahrungsaufnahme die Willkür. Hier behauptet sich das
Restresiduum des Glaubens.
Auch das Fasten findet in der Religion seinen Ursprung und ist am
Ende das letzte Heil das bleibt. Der Verzicht auf Speisen ist die
stärkste aller Speiseselektionen. Nichts zu essen, heißt
nichts verkehrt machen. Aber man muss eben essen. So wird in der Fastenzeit
den Christen temporär der Veganismus ans Herz gelegt.
Bei unserem Gast werden wir nervös, weil wir nicht wissen, in
welcher Verfassung, welcher Zeit oder Ernährungsphase er sich
gerade befindet. Wenn es ungünstig läuft, schämt man
sich noch während des Servierens für die Speisen, die man
auf den Tisch bringt, wenn das Tischgespräch auf die bis dato
unbekannten Essensvorschriften des Gastes kommt. Als Gastgeber kann
man sich kaum noch um den Gusto kümmern, weil man sich auf einem
Minenfeld der Ideologien bewegt. Die Ansichten werden mit religiösem
Eifer verfochten und kratzen unmittelbar am Seinsverständnis
der Beteiligten. Mit dem ersten offerierten Teller kann man Grabenkämpfe
eröffnen und ambitionierte Missionen vom Zaun brechen, die andauern
bis das Essen kalt geworden ist.
Dabei ist Gastfreundschaft die erste zivilisatorische Leistung mit
Absicht zur besseren Völkerverständigung. Wer aß,
konnte nicht kämpfen. Stattdessen kämpfen wir heute für
das richtige Essen. Ja, von derartigen Vorstellungen sind wir geprägt,
wenn wir zur Tafel schreiten. Essen genügt nicht. Richtiges Essen
ist unsere Motivation, unser Lebensinhalt, unsere Religion und das
Letzte, an das wir noch glauben. Das Gastmahl, das Symposion, einst
uneingeschränkter Ausdruck der Großzügigkeit und Generosität
des Ausrichters, Selbstdarstellung und garantiert beeindruckendes
Ereignis für alle Gäste, wird zum Spießrutenlauf für
den Einladenden.
Nachdem uns weltanschauliche, politische Ideologien mehr oder weniger
fremd geworden sind und metaphysische Überzeugungen obsolet erscheinen
sind unsere Speisen dazu erkoren, unsere Weltanschauungen zu bezeugen.
In der Intimität der Nahrungsaufnahme nehmen wir uns unmittelbar
als Teil eines Weltenkreislaufs wahr. Nahrungsmittel spiegeln als
letzte Abhängigkeits-Instanz unser Verhältnis zur physischen
Welt. Zu Pflanzen und Tieren und Mitmenschen gleichermaßen.
Was zum Verzehr vor uns auf dem Tisch liegt, ist explizites Statement
über uns und unser Dasein in der Welt. Es ist Ausdruck unseres
Selbstverständnisses und letztmögliche Verortung einer ansonsten
haltlos gewordenen Existenz. Das Einführen der Nahrung ist nicht
weniger als das Einswerden mit der Welt, die ultimative Hostienspeisung
im täglichen Brot. Jeder Biss muss zum bedingungslosen Einverständnis
mit den Umständen seiner Produktion werden: Was ich nicht zu
mir nehme, ist nicht nach meinem Geist. Selbst das Hungern ist dem
geistlosen Verzehr vorzuziehen.
Alle beteiligten Umstände des Essens werden gründlichster
Reinigung von Missbräuchlichem unterzogen. Regeln wachen darüber,
was und wie man etwas zu sich nimmt. Dabei transzendieren Kochrezepte
zu Gebeten und die Zubereitungsvorschriften zu Zeremonien. Das Handwerkszeug
wird zu heiligem Besteck, die Küchenutensilien zu gehüteten
Kostbarkeiten und die zentral im Raum positionierten Küchenblocks
sind die Altäre unserer Verfasstheit.
Es spielt die Gesundheit meist nur noch die nebensächliche Rolle
einer Einstiegsmotivation. Eher betrachtet man sie als folgerichtiges
Heil, das sich aus richtiger Ernährung ergibt. Wie der Glaube
an den wahren Gott das Seelenheil impliziert. Die Gesundheit und der
vorzeigbare Leib sind die eingelösten Heilsversprechen und am
Ende Stigma und Symbolon eines Lebensvollzugs in Einigkeit.
In Ermangelung unserer metaphysischen Orientierung, erlaubt es uns
der freigewordene Raum all unsere Aufmerksamkeit unserer physischen
Verortung zu widmen und beispielsweise Essverhalten als erlebbare
Moral lesbar zu machen. Nichts Geringeres soll richtiges Essen demonstrieren:
Moralisch richtiges Handeln gegenüber den Umständen, der
Umwelt, wie auch gegen mich. Sie ist Emanation des Wahren aus den
richtigen Speisen. Soll mein Leib davon zeugen, wie letztendlich -
so der Glaube und die Hoffnung - mein Alter es dereinst belegen wird.
Den Todeszeitpunkt hinauszuschieben (um nicht zu sagen Unsterblichkeit)
wäre die letzte Bestätigung des Einklangs mit der von mir
in Jahrzehnten verspeisten Welt. Die Bestätigung, alles richtig
gemacht zu haben.
Noch nie war die Tafel in der westlichen Welt so reichhaltig gedeckt,
noch nie war es so schwierig dort zusammen an einem Tisch zu sitzen.
Da hat man in der Fastenzeit doch die gebührende Ruhe, darüber
einmal nachzudenken. Möge die Gastfreundschaft darunter nicht
leiden!
+