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Agora
oder Arena
von
Jürgen Mick
Die
Entstehung unserer Kultur kann man auf der agora, dem Marktplatz der
antiken Polis, verorten, und ihre Wurzeln liegen in dem dort erstmals
geführten öffentlichen Dialog. Die öffentliche argumentative
Auseinandersetzung stand am Anfang dessen, was wir westliche Kultur
nennen und verhalf im antiken Griechenland dem politischen Bürger
zu seiner Geburtstunde.
Die agora bezeichnet den klassischen öffentlichen Raum. Dort übten
die Magistrate ihre öffentlichen Ämter aus. Die Bürger
konnten sie ansprechen und ihnen ihre Klagen vorbringen. Auf dem Marktplatz
der Polis trafen sich wohlhabende Bürger, die in der Regel von
ihren Familien und Sklaven umsorgt waren und sich nicht um ihr tägliches
Brot zu kümmern hatten, um sich mit den anderen Bürgern im
Gespräch auszutauschen. Auf der agora sah man aber auch geschäftige
Sklaven und Frauen bei der Verrichtung ihres Tageswerks. Man sah bekannte
und unbekannte Gesichter. Auf der agora mischte sich das Arbeiten und
das Handeln. Es war ein Raum in dem die Geschicke der Polis bestimmt
wurden, durch die Personen, die dort ihre Ämter und somit ihre
Pflichten gegenüber der Polis erledigten.
Argumentative Auseinandersetzung, wie sie dort ihren Ursprung fand,
fordert Überzeugung ein. Jede Partei hat in diesem Prozess mit
Argumenten einen Standpunkt zu vertreten. Das Eingestehen einer Niederlage
gehört zu diesem Verfahren ebenso, wie argumentative Überlegenheit.
Nur wenn beide Parteien von vornherein bereit sind diese Voraussetzung
anzuerkennen, wird eine inhaltlich zu begründende Position als
Abschluss errungen werden. Unsere Kultur verlangt geradezu von jedem,
bereit zu sein für die Niederlage. Das Besondere einer solchen
Niederlage ist, sie zielt nicht auf die jeweilige Person ab, sondern
auf die Sache selbst. Die Abstraktion einer Sache von der sie äußernden
Person, macht die Sache zum Inhalt. Der Diskurs dreht sich allein um
den Inhalt, unabhängig von den Personen. Das gute daran: Läuft
eine Entscheidungsfindung über den Prozess des Dialogs, wird am
Ende nicht ein leeres Zahlenverhältnis eine Entscheidung untermauern,
sondern offensichtliche, für jedermann zugängliche Argumente.
Und nur einem solchen Ergebnis sind Menschen auch bereit sich einsichtig
zu beugen. Auf der Streitkultur wie sie sich zwischen gleichberechtigten
und gegenseitig anerkannten Kontrahenten ereignet, ruhte in der antiken
polis das Demokratieverständnis.
Die
Arena ist der klassische Ort der Masse. Es ist der Ort an dem es erstmals
gelang sich künstlich in Stimmungen und Hysterien zu versetzen,
die nur der Masse zu eigen sind. So besuchen die Menschen die Arenen,
allein um sich als Bestandteil der Masse zu erleben. Und ob Amphitheater
oder Kolosseum, man erkennt schnell, dass die Möglichkeiten der
Manipulation der Masse schier unbegrenzt sind. In einer Arena kann man
die Masse sogar dazu bewegen über Leben und Tod zu entscheiden.
Veranstaltungen wie Podiumsdiskussionen, Talkshows, aber auch Fußballspiele,
Radsport- oder Boxwettkämpfe haben eindeutig Arena-Charakter. Das
Besondere liegt im Zusammenspiel der Protagonisten mit ihrem Publikum.
Die Arena lebt vor allem durch das Publikum. Die Zuschauer treten dort
als Masse und nicht mehr als Individuen in Erscheinung. Es kann nicht
gelingen in einer Fußballarena während des Spiels mit einzelner
Stimme sich entgegen der Masse zu artikulieren. Fernseheinschaltquoten
wie auch Verkaufszahlen hängen nicht von der Entscheidung und der
Aktion eines Einzelnen ab, sondern vom Verhalten der Masse. Gleich dem
Schlachtruf einer skandierenden Menge erreicht die Protagonisten jeweils
nur ein statistisch einnivelliertes Feedback.
Für Großveranstaltungen gelten Regeln wie für das Schauspiel
oder die Bühne im Allgemeinen. Der Erfolg hängt wesentlich
von Manipulationen ab. Die Protagonisten informieren sich in der Vorbereitung
bestmöglich über ihr Publikum und liefern eine maßgeschneiderte
Performance ab. Man sucht den direktesten und emotionalsten Zugang zum
Zuschauer, denn man will niemanden überzeugen, sondern umstimmen.
Die Stimmung des Publikums für sich zu nutzen macht den geschickten
Manipulator aus.
Argumente haben es in einer Massengesellschaft schwer, weil Überzeugungen,
wenn sie sich denn überhaupt noch einstellen, immer gleichzeitig
gegen einen Massenkonsens branden. Der "Gegner" ist heute
nicht mehr auszumachen als jemand, der etwas zu verteidigen hat. Der
Gegner ist einfach die anonyme Masse. Argumente werden nicht mit Macht
durchgesetzt, sondern mittels Mehrheit. Das setzt neue Qualitäten
bei den Argumenten voraus. Argumente müssen zeitgleich möglichst
viele Menschen erreichen. Die inhaltliche Qualität eines Arguments
ist nur eines von vielen Kriterien und nicht mehr ihr dringlichstes.
Schnell viele Adressaten zu erreichen erfordert vor allem allgemein
verständlich zu sein. Schnelle Verbreitung findet, was schnell
begriffen werden kann und schnell kommuniziert wird. Nicht das beste,
sondern das "durchschnittlichste", süffigste Argument,
das die meisten Verfechter zur gleichen Zeit findet, wird erfolgreich.
So ist es beinahe Zufall welches Argument in den einzelnen Köpfen
einnistet, aber es ist zumindest unwahrscheinlich, dass es das "beste"
ist. Auf diesem Weg werden selten Überzeugungen gewonnen, als vielmehr
esoterische - dem Glauben nicht unverwandte - Meinungen, deren Basis
die Mehrheit ist.
Muss
es da nicht nachdenklich stimmen, wenn man allerorten feststellt, dass
sich geradezu eine Kultur der Arenen mehr und mehr durchsetzt? Sind
wir so auf dem besten Wege unsere Kultur zu verspielen, auf die wir,
bei jeder Gelegenheit, stolz verweisen? Kann es andererseits Zufall
sein, dass wir heute unsere Marktplätze nicht mehr zum argumentativen
Austausch nutzen, sondern sie in Arenen verwandeln für Musik-,
Sport- und Kulturwettkämpfe?
Auf der agora der überschaubaren antiken Polis wurde die politische
Freiheit des Menschen geboren. Es war ein Ort an dem unsere Kultur ihren
Ursprung im Dialog gefunden hatte. Es gibt zu Recht zu rätseln
auf, ob diese Kultur noch etwas zu tun hat mit einer Gesellschaft aus
(im antiken Sinne) zutiefst unpolitischen Individuen. Trennt uns vieleicht
ein unüberwindbarer, demoskopischer Riss von unseren Wurzeln? Entscheidend
wird jedoch sein, ob in einer Massengesellschaft, wie unserer, sich
im Willen des Einzelne etwas von ihrem Erbe bewahrt hat, oder ob es
unvermeidlich ist, dass dieses Erbe in den Arenen unserer Zeit endgültig
unter die Räder kommt.
20.10.03
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1)
Creveld, Martin, Aufstieg und Untergang des Staates, (Gerling Akademie
Verlag, 1999) |
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2)
Bubner, Rüdiger, Polis und Staat, (Suhrkamp 2002) |
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3)
Arendt, Hannah, Vita activa, (Piper 2002) |
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4)
Geuss, Raymond, Privatheit, (Suhrkamp 2002) |
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