Körper
und urbane Identität
Wenn wir unsere urbane Identität suchen, werden
wir unseren Körper finden.
von Jürgen Mick
Körper
und Kommunikation als Bedingung für die Form der Stadt.
Für
die folgenden Überlegungen versuche ich, den urbanen Kontext als
Musterbildung aus Bauwerk und freiem Raum zu lesen und dabei den freien
Raum - und die Anordnung der Bauwerke, als dessen negative Struktur
- als von Körpern, oder allgemeiner, von Massen und deren Bewegung
geprägte Form zu interpretieren.
Als der Mensch beginnt, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen,
schafft er sich selbst eine vertraute Umgebung, worin es ihm möglich
ist, sich gefahrlos zu bewegen. Er bediente sich grundsätzlich
also der Strategie, seine Umwelt selbst zu gestalten, um sie besser
kontrollieren zu können. Es war vor allem die Angst, die ihn dazu
bewegte, Vorsorge zu treffen. Auch der städtische Raum ist ein
solches schützendes Konstrukt der menschlichen Gemeinschaft. Als
soziales Gebilde folgt sie grundsätzlich einmal den ambivalenten,
sozialen Beziehungen von Nähe und Distanz ihrer Bewohner und zum
Anderen immer auch den körperlichen Bedürfnissen der Bewohner
und Besucher.
Der Mensch kommuniziert und tauscht sich aus mit seiner Umwelt. Der
Mensch greift um sich, und er schreitet aus. Er durchschreitet die Welt,
und seine körperliche Präsenz lässt ihn Raum nehmen.
Unter dem Dualismus von kommunikativen und körperlichen Bedürfnissen
kann man wohl alle prägenden Elemente des Städtebaus in irgendeiner
Form subsumieren. Die Kommunikation und die Bewegung, sei es als Tausch
von Gütern oder als verbaler Akt, sind maßgeblich für
die Gestalt des städtischen Raums verantwortlich.
Das Charakteristische der klassischen Stadt ist, dass sie für die
gesellschaftliche Differenzierung von Privatheit und Öffentlichkeit
ihre bauliche Entsprechung findet. Städtischer, öffentlicher
Raum war eigentlich der "Restraum" zwischen den Bauwerken.
Dienten die Bauwerke mehrheitlich der privaten Unterkunft, so überließ
man den "Restraum" der gemeinschaftlichen Nutzung. Keiner
war befugt, persönliches Eigentum an ihm geltend zu machen, und
Jedermann konnte sich und seine Güter mit gleichem Recht darin
bewegen. Der öffentliche Raum ist der "Kitt" der Städte,
und er folgt daher in seiner Gestalt geradezu seismografisch jeder Veränderung
des Zusammenlebens. Der urbane öffentliche Raum ist prinzipiell
demokratischer Raum, und er dient seinen Bewohnern, nicht zuletzt, zur
gesellschaftspolitischen Artikulation.
In allen Funktionssystemen der Gesellschaft sieht Niklas Luhmann einen
materiellen Bezugspunkt der Kommunikation, da "an allen Kommunikationen
psychische Systeme beteiligt sind, die strukturell an Organismen gekoppelt
sind. Deren Bedürfnisse gehen in ganz elementarer Weise in die
Kommunikationen des Systems ein. Dabei dringen körperlich-materielle
Bedürfnisse und Erfahrungen zu höheren Ebenen der Systembildung
durch." (3) Die Kopplung unserer Bedürfnisse und unserer Kommunikation
an einen körperlichen Organismus erfordert naturgemäß
also materielle Befriedigung und Versorgung. Diese wiederum erzeugt
körperliche Bewegung in unserer Umwelt. Die Städte, die eben
diesen Bewegungen Rechnung tragen, zeichnen gleichsam die Veränderung
und Entwicklung der Körperbewegungen nach.
Betrachtet man den öffentlichen Raum unter diesem Aspekt der Bewegung,
erschließen sich seine Gestalt und Dimension. Man denke z.B. an
die Größe der Transportmittel, die Art der Gefährte,
deren zunehmende Geschwindigkeit oder auch die Veränderung der
Ver- und Entsorgungssysteme für Wasser, Gas und Ahnliches. Jede
Variation in der Bewegung von Massen hat unmittelbar Auswirkung auf
die Beschaffenheit der öffentlichen Räume. Die körperliche
Bewegung schreibt sich unmittelbar in den Stadtgrund ein.
Betrachtet man den öffentlichen Raum unter dem Aspekt der Kommunikation,
erschließt sich seine Bedeutung für die Gesellschaft. Öffentlicher
Raum war immer als Kommunikationsraum konstitutiv für die urbane
Gesellschaft. Der öffentliche Raum war eben doppelt bestimmt, durch
die materielle, als auch durch die kommunikative Funktion. Die Kunst
des "funktionierenden" öffentlichen Raums kann verstanden
werden als Kunst, die Balance zwischen Bewegungsraum und Kommunikationsraum
aufrecht zu erhalten. Was wir heute feststellen, ist eine Irritation
dieses Verhältnisses. Die Kommunikation nimmt im städtischen
Raum zunehmend eine nachrangige Bedeutung ein. Es stellt sich eine Verschiebung
der Gewichte zu Gunsten des Bewegungsraums und zum Nachteil des gemeinschaftlichen
Aufenthalts- und Kommunikationsraums ein. (Als Beleg dafür kann
man die spontanen Gegenreaktionen deuten, z.B.: der Einzug der Eventkultur
in unsere Städte, um sie zu "beleben", ist der Versuch,
das Gleichgewicht auszutarieren). Noch nie wurden im öffentlichen
Raum soviel Körper und Massen bewegt wie heute, und noch nie waren
wir so passiv im öffentlichen Raum präsent.
Soziale Verhältnisse als körperliche Verhaltensweisen.
Soziale Systeme konstituieren sich vor allem durch die Relationen ihrer
Elemente. Für Rückschlüsse auf die Rolle, die unser Körper
bei der Gestaltgebung des öffentlichen Raumes spielt, sollen hier
ausschließlich die körperlichen Aspekte der Kommunikation
in Betracht gezogen werden; ich will versuchen, die körperliche
Komponente sozialpolitischer Verhältnisse zu skizzieren.
Georg Franck stellt fest, "mit den Städten hatte sich eine
Lebensform herausgebildet, in der sich die Menschen vor allem miteinander
beschäftigten. Das Leben in der Stadt ist ein Leben mit vielen
Anderen und "in den Augen vieler Anderer". Das Leben in der
Stadt lässt die Selbstdarstellung zum selbstverständlichen
und selbstverständlich zentralen Lebensinhalt werden." (2)
Das Leben "in den Augen der Anderen" ist nicht bloßes
Zur-Schaustellen, sondern versteht sich als ein Leben in der Verantwortung
mit den Anderen. Es ist das "Sich-Zeigen", wie man in den
Augen der Anderen gesehen werden will, das seine Rückkopplung in
unserem Gewissen hat. Es handelt sich um Selbstdarstellung, die von
Scham geprägt ist. "Die Scham `erschließt uns als Emotion,
wer wir sind und wer wir zu sein hoffen.´ Wenn jemand sich seines
Verhaltens wegen schämt, überprüft er das Bild, das er
von sich hat, mit jenem Bild, das er in den Augen eines realen oder
imaginierten Dritten abgibt." (4) Ein solches Bedürfnis der
Selbstdarstellung bezeugt ein Selbstverständnis von integrativer
Gemeinschaft. Die Stadt wird so zur Geburtsstätte sozialer Kommunikation
unter Fremden. Die körperliche Präsenz im urbanen Raum ist
dabei das Fundament der Gemeinschaft. Man kann wohl mit Recht behaupten,
auf dem barocken Marktplatz sah man das bunte Treiben einer echten Gemeinschaft.
Auf den Marktplätzen der Moderne bewegt sich nur noch eine bunte
Masse. (vgl. 5) Was ist geschehen?
Was in der Renaissance mit der Entdeckung des Individuums begann, geriet
im zwanzigsten Jahrhundert zum Kult des Individualismus. Die Individuation
mündete in einen Totalitarismus mit Wahlzwang zur Identität.
Unsere Lebensführungen sind so pluralistisch geworden, dass man
geradezu gezwungen ist, sich als Individuum selbst zu erfinden. Patchwork-Biografien
und selbst entworfene Lebensläufe lassen das Individuum zum Kunstprojekt
werden. Was vor wenigen Generationen als sprunghaft und unbeständig
galt, ist heute die Norm. In einem derart verinnerlichten "Turbo-Individualismus"
ist es doch geradezu unwahrscheinlich geworden, auf der Straße
auf ein Gegenüber mit gemeinsamem "Nenner" zu stoßen.
So geht jeder Kommunikation im öffentlichen Raum unserer Städte
zwangsläufig der Empfänger verloren. Als Folge durchziehen
die Menschen die Straßen der Stadt, als folgten sie imaginären
Schienen, in unsichtbaren Röhren. Mit Tunnelblick und eigenen undurchdringlichen
Ideen im Kopf. Als "tunnel-people", möchte ich sie nennen,
begegnen sie einander im öffentlichen Raum, ohne miteinander in
Kontakt zu treten. Mit steigender Diversifizierung der Biographien spielen
körperliche Artikulationen im öffentlichen Raum eine veränderte
und politisch gesehen, auch gar keine Rolle mehr. Es ist nicht mehr
nötig, den Marktplatz aufzusuchen, um am politischen Leben teilzunehmen.
Unsere politische Artikulation wird gänzlich Körper-unabhängig.
Die massenmediale Durchdringung unseres Alltags erlaubt es, an typischen
gesellschaftlichen Aktionen Teil zu haben, ohne dafür körperlich
präsent sein zu müssen. Die öffentlichen Medien sind
es nämlich, die als ""attraktiver" Sektor die ältere
Form der Öffentlichkeit absorbieren und ersetzen. Alles, was öffentliche
Erheblichkeit gewinnen will, muss auf der medial hergestellten Seite
der subjektiven Erlebniswelten erscheinen" (2), so Georg Franck.
Als Folge dieser kompletten Überformung unserer gesellschaftlichen
Kommunikation kommt es zu einer bis zur Unkenntlichkeit entstellten
Vermengung der klassischen Aktionsräume. Das urbane Gefüge
erfährt eine Vermischung von Privatraum und öffentlichem Raum,
wie es ihn seit Entstehung der Städte nicht gegeben hat. Vilem
Flusser behauptet gar, dies führt zum Ende der Politik. Er besteht
darauf: "Nur in der gelebten (körperlichen) Dichotomie von
Privat/Öffentlich kann eine dialogische Demokratie sich speisen"
(5). Aus der Gemeinschaft ist eine Masse von Individuen geworden, die
sich nichts mehr zu sagen hat.
Es stellt sich die Frage nach sozialen Bindungen. Brauchen wir keine
sozialen Absicherungen mehr, um unseres Lebens "sicher" zu
sein? Geld bietet den Meisten Sicherheit genug. Stehen genügend
Mittel zur Verfügung, lassen sich Leistungen der Gemeinschaft substituieren
und ganz einfach kaufen. Warum heute dennoch Rufe nach Gemeinschaft
laut werden, kann man eigentlich nicht verstehen, wäre die Entwicklung
eine gesunde Entwicklung. Aber aus reiner Sentimentalität lässt
sich auch Gemeinschaft nicht rekonstruieren, dazu bedarf es handfester
Bedürfnisse. Doch vielleicht müssen wir uns endlich eingestehen,
Gemeinschaft an sich ist nicht mehr notwendig. Woraus sich unsere sozialen
Systeme speisen, sind schließlich die Massen. Die "statistische"
Masse bleibt für die Versicherung relevant und die "verfügbare"
Masse verdonnert die Gesellschaft zur Dienstleistung. Wir haben, wenn
man so will, geschafft, uns ein separiertes Leben einzurichten, in relativer,
hoher Sicherheit! Die Sorge um unseren Körper kann mit Geld befriedigt
werden. Gegebenenfalls zahlen wir dafür, um in Ghettos wohnen zu
dürfen! Gated communities sind ein erster Anfang.
Die Frage muss gestellt werden: was bleibt von den Anderen im "öffentlichen
Raum" erlebbar? Was bewegt sie durch die Stadt? Die anderen Körper
sind keine Träger politischen Engagements mehr, sie sind verstummte
Hüllen. Womit ein konstituierendes Merkmal für den öffentlichen
Raum verloren wäre. Das kleinste gemeinsame Vielfache, das uns
bleibt, ist der Bedarf an Gütern. Wie Koolhaas richtig feststellt,
ist "Shopping" (1) die einzige Tätigkeit, die noch wirklich
öffentlich ist. Dem folgt die funktionale Reduktion des ehemals
Anteil nehmenden Mitmenschen auf seinen ausdruckslosen Körper.
Mitmenschen werden zu Körpern, die sich bewegen.
Die Körper der Anderen gehen uns nichts mehr an. Entgegen aller
Liberalisierung im gesellschaftlichen Bereich werden "körperliche
Situationen" prinzipiell aus der Öffentlichkeit verdrängt.
Sogar harmlose körperliche Äußerungen werden tabuisiert.
Bei aufmerksamem Beobachten können wir feststellen, selbst die
geringste Berührung zweier Menschen im öffentlichen Raum erregt
Aufmerksamkeit. Körperliche Geräusche und Gerüche sind
seit langem in der Öffentlichkeit tabu. Die Körpersäfte
werden mit allen Mitteln aus der Öffentlichkeit verdrängt
und in unseren Städten unter die Erde verbannt. Der Körper
funktioniert, wie eine Maschine, berechenbar, fast nie spontan und immer
sauber und leise.
Der
körperliche Makel ist im öffentlichen Raum trotz der angestrebten
Gleichstellung von Behinderten seltener zu beobachten als je zuvor.
Alle Bemühungen der Integration von Behinderten zerschellen am
verinnerlichten Körperverständnis der Moderne. Die gesteigerte
Ästhetisierung in der Gesellschaft führt zu einem engeren
Spektrum von körperlicher Normalität. Auf der anderen Seite
öffnet sich ein umfangreicher Bereich des Abartigen und Kranken.
Das Paradoxe ist, trotz aller bewusster Integrationsbemühungen
bewirkt allein die Bezeichnung des Kranken, dass sie diesen herausstellt
und so zum Nichtmitglied macht. Die Thematisierung eines Makels als
Behinderung ist Zeichen dafür, dass sie nicht mehr selbstverständlich
ist. Die Gesellschaft, die Emanzipation betreiben muss, ist eine Gesellschaft,
die sich separiert hat, in der es kein selbstverständliches Rollenverhalten
mehr gibt. Eine homogene Gemeinschaft könnten wir vielleicht erst
wieder erreichen, wenn wir uns alle als Kranke verstehen. Mit dem Ideal
von Gesundheit, Schönheit und Funktionstüchtigkeit auf unseren
Fahnen stigmatisieren wir die kleinste Abweichung und erzeugen gesellschaftliches
Abseits. Krankheit und körperliches Leid sind heute Privatsache.
Die rigorose Vollendung der Sauberkeits- und Hygieneentwicklung bringt
ihre Schattenseiten zum Vorschein: Die vollständige Verdrängung
des Körperlichen aus der Öffentlichkeit. Der Körper selbst
wird als unrein und privat deklariert. Stattdessen ersetzt ein "Körper-Ideal"
alles wirklich Körperliche und verbirgt hinter diesem Bild eine
Seite unseres Menschseins. Der Körper wird zur Schau getragen,
er wird zur Verfügungsmasse. Models, Sportler und Bodybuilder sind
die Ikonen unserer Zeit. Da kann körperliche Realität mit
all ihrem vermeintlichen Makel nur verstören. Ihr Ghetto ist der
private, gesellschaftlich irrelevante Bereich des Lebens.
Unser Verhältnis zu unserem Körper: ein Missverständnis.
Leider haben wir eine Zeit hinter uns, in der wir zunehmend angehalten
wurden, unseren Sinnen zu misstrauen. Die Neuzeit konfrontiert uns mit
der Überforderung der Sinne durch die Unsichtbarkeit. Wir haben
seit dem ausgehenden Spätmittelalter gelernt, mit der Täuschung
der Sinne zu leben. Die Entdeckung der Unsichtbarkeit der "Dinge"
lässt uns erkennen, dass der Kontrolle unserer Sinne Einiges entgeht.
Optische Täuschungen werden zum alltäglichen Geschäft.
Virtuelle Welten konkurrieren in verstärktem Maße mit der
vormals dinglichen Realität. Die Durchdringung unseres Alltags
mit den Wirkungen der "Unsichtbarkeit" hat unser Verhältnis
zu unseren Sinnen gestört. Beispiele größter Aktualität
lassen sich aus dem Bereich der Biochemie oder Gentechnik nennen, doch
auch schon so folgenreiche historische Entdeckungen wie die Elektrizität
zeigten schon damals, dass unsere Sinne nicht immer zuverlässig
genug Gefahren für Leib und Leben anzeigen. Messgeräte und
"Prothesen" übernehmen seitdem zunehmend diese Funktion.
Wir erleben und leben heute oftmals nur mehr mit den Wirkungen "unvorstellbarer"
Ursachen. Die Vehemenz des Misstrauens, die die alte sinnliche Erkenntnis
relativierte, liegt in der Alltäglichkeit der Erscheinungen und
der Durchschlagkraft ihrer Katastrophen. Bei Missachtung der Vorsichtsmaßnahmen
droht nicht selten der Tod.
Die
Täuschung unserer Sinne führt zu einer Relativierung unseres
Körpers im Verhältnis zu unserem Wissen. Wir haben gelernt,
um zu überleben, muss der Mensch der Neuzeit über "Gefahren-Wissen"
verfügen. Vermutlich haben wir der Tatsache, dass das Wissen um
Gefahren den sinnlichen Wahrnehmungen von Gefahren überlegen sei,
zu danken, dass ein Misstrauen zu sinnlicher Wahrnehmung unser Körperbewusstsein
belastet.
Dass
dies selten als Verlust empfunden wird, liegt einerseits natürlich
an dem Erfolg, der der Anwendung von "Gefahren-Wissen" beschert
ist, und andererseits an der Versprechung, die von modernen Technologien
auch ausgeht. Der Unsichtbarkeit der Dinge hängt nicht nur die
Gefahr für Leib und Seele an, sie birgt auch Faszination. Die Faszination
des Körperlosen, des alle Distanzen überwindenden Fortbewegens,
des metaphysischen, göttlichen, körperlosen Glücks. Der
Ruf nach Wohlbefinden und Unberührbarkeit lockt in den "unsichtbaren"
Technologien.
Die
Technik und der Fortschritt haben die Geister beflügelt und den
Alltag geprägt. In der Durchdringung der westlichen Gesellschaft
vom Mythos der Wissenschaft und Technik liegt der Grund unseres objektivierten
Verhältnisses zu unserem Körper. Im Speziellen zeichnet die
Wissenschaft des Körpers, die Medizin, dafür verantwortlich.
Die Medizin ist das Fachgebiet, welches die Objektivierung des Körpers
professionalisiert hat. (5) Die Wissenschaft vom Körper muss, um
objektive Kenntnisse zu erlangen, ein Objekt Körper kreieren. Die
allgemeine Verwissenschaftlichung der Gesellschaft führte genau
diese Sichtweise und dieses Körperverständnisses in breitem
Umfang in die Gesellschaft ein. Dort stößt die Anschauung
auf fruchtbaren Boden. Der Körpers als Objekt verführt geradezu,
den Körper und seine Bedürfnisse zu vermarkten. Die Objektivierung
erfährt eine Beschleunigung von Industrie und Wirtschaft. Man erkannte
sofort, die "Maschine Mensch" lässt sich lukrativ speisen.
Von Design-Food über Kosmetik bis hin zu Pharmaka entwickelt das
Objektbild Körper ungeahnte Märkte. Eine kritische Distanz
zu Diagnose, Therapie und Medikamentierung ging dabei verloren. Es war
nämlich gelungen, das Ich zu umgehen; das Ich ist nicht mehr Teil
der Behandlung, es gilt als übergeordnet mit Verfügungsgewalt
über den Körper. Äußerungen des Körpers werden
unterdrückt, überhört, ignoriert. Man vernachlässigte
schlicht und einfach, dass jedes psychische System an einen Organismus
zurückgekoppelt ist und die Systeme des organischen Lebens mittels
Signale mit den psychischen in Kontakt stehen. Man könnte sagen,
es herrschen Kommunikationsstörungen zwischen den Systemen vor.
Der Verstand mit seinem Wissen gewann sehr schnell an Bedeutung, und
er wurde alleinige Entscheidungsinstanz über Gesundheit und körperliche
Erscheinung, so dass wir die Äußerungen unseres leiblichen
Organismus zu deuten, ohne Konsultation von Spezialisten, uns nicht
mehr in der Lage sehen. Rigoros wird jedes Zwicken, Jucken und Stechen
bekämpft, noch ehe es sich vollständig entfalten kann.
Mit
unserem objektivierten Verhältnis zu unserem eigenen Körper
und mit Veränderung der sozialen Verhältnisse und der fortschreitenden
Individuation hat unser körperliches Befinden einen neuen Stellenwert
bekommen. Der urbane Mensch der Moderne hat seine Verbindlichkeiten
abgelegt. Er konzentriert sich, befreit von jedem Artikulationszwang,
auf Bequemlichkeit, Wohlbefinden und Vermehrung. Wir folgen befreit
vom gesellschaftlichen Zwang unseren rudimentären Trieben. Wir
sind lediglich betriebsam, um es am Ende bequem zu haben. Es ist paradox,
doch alle unsere Anstrengungen haben nur noch das eine Ziel, uns nicht
mehr anstrengen zu müssen. Die Entwicklung vieler Techniken hat
also gerade körperliche Ursachen. Dabei gilt für das Verhältnis
zu technischen Neuerungen, dass unsere Bedürfnisse ausschließlich
die Errungenschaften der Forschung protegieren, durch die sie auch befriedigt
werden. Die Bedürfnisse sind bereits latent vorhanden, noch ehe
technische Raffinessen sie zum Leben erwecken, oder gar zur Manie werden
lassen. Oft wirkt das Neue nur als Katalysator. Oftmals, wenn wir unheilsame
Wirkungen verdammen, vertauschen wir Ursache mit Wirkung. Nicht die
Technik zersetzt unsere sozialen Verhältnisse, unsere menschlichen
Anlagen nutzen die Vehikel, die sie verstärken. Die Verstärker
treffen auf schlafende Ressourcen. So kann man auch die Tendenz der
Entmaterialisierung als ein Phänomen der Entwicklung unserer Anlagen
darstellen. Es hat den Anschein, es sei des Menschen höchstes Ziel,
dieser materialen Welt zu entkommen. Die Entledigung des Körpers
verheißt schließlich, dem Schmerz zu entkommen. Die Glücksbotschaft
der Moderne, Minimierung des Leids und Maximierung der Lust, fände
darin ihre Vollendung. Der Körper dient nur noch zur Maximierung
des Wohlbefindens. Das Ich reduziert sich auf das "ich denke"
oder besser "ich kalkuliere". Der Körper-Geist-Dualismus
prägt mit erschreckender Durchschlagkraft unser Selbstverständnis.
Rationalismus auf der einen Seite, Hedonismus auf der anderen Seite.
Wir nehmen unseren Körper als etwas Akzidentielles wahr. Ich und
Körper driften auseinander. Über die Objektivierung hinaus,
vollzieht sich geradezu eine Entfremdung vom Körper.
Unter
der distanzierten Betrachtungsweise unseres eigenen Körpers leidet
vor allem unsere sinnliche Wahrnehmung der realen Umwelt. Was wir beim
Beschreiten dieses Weges opfern, ist das Verständnis für den
wesentlichen Anteil unserer Sinne, sprich des Körpers, am Gefühls-
und Sozialleben in Beziehung zu unserem realen Gegenüber. Die anfangs
erwähnte menschliche Strategie der Schaffung einer künstlichen
Umwelt, deren frühes Ergebnis die Stadt war, nimmt heute Züge
einer vollständig sinnlichen Kontrolle an. Die Entwicklung hin
zu einer künstlichen Umwelt legt bereits eine beängstigende
Selbstverständlichkeit an den Tag. Seit einigen Generationen finden
wir uns eingebettet in den Prozess der Digitalisierung. Sowohl visuell,
auditiv als auch taktil lassen sich alle Bereiche der sinnlichen Wahrnehmung
bereits heute digital manipulieren. Alle Reize können synthetisch
produziert werden und sind digital bearbeitbar. Unser Alltag vermittelt
den Eindruck, unseren Sinnen ist nur noch gefilterte Wahrnehmung zu
zumuten. Die Sensibilität ist dermaßen degeneriert, dass
nur noch künstlich komponierte Reize verträglich scheinen.
Wir umgeben uns mit einem Kokon künstlicher Sinnesreize. Deodorants
betören unseren Geruchsinn. Retortenmusik verstopft unsere Gehörgänge.
Desinfektionsmittel bewahren unsere Haut vor Krankheitserregern. Unseren
Augen gaukelt eine wahre Bilderorgie allerorten eine heile Welt vor.
Die Sinne sind betäubt, der Körper ist gestylt. So und nicht
anders artikuliert sich unser Wohlbefinden. Was wir dabei aus den Augen
verlieren und was uns zum Verhängnis werden kann, ist die prinzipielle
Verbundenheit zum körperlichen Organismus.
Der
entscheidende Aspekt des Körperlichen, der dabei unterminiert wird,
ist unsere Verletzlichkeit. Sie ist der Motor für das Streben des
Menschen, eben auch nach sozialer Gesellschaft und Wohlbefinden; alle
Angst resultiert aus dem Körper, und unser Leben ist sozial, nicht
zuletzt, weil wir Schutz für unseren Körper suchen. Wir brauchen
die Brutpflege, weil wir wehrlos sind. Wir bedürfen der Gemeinschaft,
weil wir alleine schwach sind. Die Gemeinschaft bietet Schutz und Sicherheit.
Unsere Verletzlichkeit lässt uns Gefahren rechtzeitig erkennen,
sie ist unser primärer Schutzmechanismus und unsere Überlebensgarantie.
So müssen wir feststellen, dass heute der Körper als ureigenster
Antrieb für unsere sozialen Leistungen, seiner Leitfunktion enthoben
wird. Wir wähnen uns in Sicherheit und glauben alle Feinde, die
unser körperliches Leben bedrohen, sind inzwischen eliminiert,
vom Säbelzahntiger bis hin zum Wetter. Wir haben einst begonnen
unsere Umwelt nach der Verletzlichkeit unseres Körpers zu gestalten,
doch kann diese heute kaum noch Leitinstanz zur Lesbarkeit dieser artifiziellen
Welt sein. Wir sind umgestiegen. Wir haben die Verletzlichkeit betäubt
und die körperliche Lust zu unserem Leitsystem erkoren.
Die Stadt spiegelt unser Körperverständnis.
Wir haben unseren Körper zum Schweigen gebracht, objektiviert,
entmündigt und verraten und zu guter Letzt distanzieren wir uns
von ihm. Wir behandeln unseren Körper nicht besser und nicht schlechter
als eine wertvolle Maschine. Wir ölen und salben ihn und stellen
ihn zur Schau. Wir schützen und präsentieren ihn, aber entheben
ihn jeder Funktion.
Wir
können unserem Körper niemals entkommen, wir sind durch ihn
untrennbar mit einer materialen Welt verknüpft; zwar hat es manchmal
den Anschein, wir bedauern dies, doch jeder Versuch, daran etwas zu
ändern, entfernt uns etwas mehr vom Menschsein.
Unsere
Architektur heute zeugt von dieser Ambivalenz. Funktionalität beherrscht
das Stadtbild, um unseren Körpern "reibungslosen" Durchgang
zu ermöglichen. Dem schutzlosen, hilfsbedürftigen Körper
jede Last zu nehmen, ihn vor jedem Regentropfen zu schützen. Rolltreppen,
Aufzüge, Shopping Malls, automatische Türen, Klimaanlagen,
Luftschleier - Widerstand unerwünscht. Diese Elemente der Zweckarchitektur
sind vorbehaltloses Muss unserer Zeit. Jede Stufe ist eine Stufe zuviel.
Dies alles ist Ausdruck eines widerstandslosen und reibungslosen Leben-Wollens.
Ein Leben ohne Schmerz.
"Tunnel-people"
wollen nicht gestört werden. Tausende von Röhren durchziehen
die Stadt, unsichtbar von einem Punkt zum nächsten. Freie Bahn
für meinen Körper. Shopping Malls sind das Biotop und gated
communities der Rückzugsbereich für die zerbrechlichen Körper.
Frei von ungewünschten klimatischen Verhältnissen, unbehelligt
von sozialen Randgruppen, können sie sich bedenkenlos bewegen,
trocken, isoliert, sicher.
Für
die Dinge des körperlichen Verfalls sind in unseren Städten
Ghettos vorbereitet. Der körperliche Tod, die Kälte einer
Leiche, wer hat sie je wahrhaftig verspürt? Der Tod erscheint nur
mehr als bürokratische Instanz. Krankheit ist in Kliniken und Heimen
gut verborgen. In der Welt der Kranken erscheint nur der unmittelbare
Vertraute und die, die dafür bezahlt werden.
Was
heute als "bewusstes" Wahrnehmen unseres Körpers tituliert
wird, ist ein Vorgang der Degradierung des menschlichen Körpers
zu einer Funktionseinheit, zu einem leeren Objekt der Stimulans. Aufgehoben
ist der Aspekt der körperlichen Präsenz. Die Kommunikation
mit Fremden ist auf Funktionalistisches reduziert, Politisches wird
ausgeblendet. Die Überbewertung der kognitiven gegenüber der
sensualistischen Funktion, die Objektivierung des Menschen in Funktionseinheiten,
Verstand (zur Lebensbewältigung) und Körper (zum Wohlbefinden),
hat die Moderne perfektioniert. Der Funktionalismus bereitete dieser
Auffassung den Weg und manifestierte ihn auf architektonische Weise
in Wort und Tat: "Form follows function."
Man
darf nicht, wie so oft geschehen, versucht sein, der Architektur die
Rolle des Auslösers dieser monadenartigen Introvertiertheit der
Menschen zuzuschieben. Unsere Lebensvorstellungen gehen einer Architektur
immer voraus. Mit anderen Worten, jede Gesellschaft hat die Architektur,
die sie verdient. So muss auch hingenommen werden, dass der Versuch,
durch Gestaltung von Stadträumen die Menschen zu ändern, immer
scheitern wird. Eine "gelungene" Stadt wird als solche nur
empfunden werden, wenn sie vorbereitet ist auf kommende Bedürfnisse.
Dazu sei hier Umberto Eco zitiert zur Aufgabe des Architekten: "Er
(der Architekt) muß jedenfalls wissen, daß es seine Aufgabe
ist, Bewegungen der Geschichte zu antizipieren und aufzugreifen, nicht
sie in Gang zu setzen." (S.356) Die Geschichte lässt sich
durch Architektur nicht in Gang setzen, sie kann nur bestmöglich
vorbereitet sein. Vielleicht waren unsere Städte auf die jüngsten
Entwicklungen unseres Menschseins weniger gut vorbereitet.
Vielleicht
wären auch die folgenden Worte als Leitfaden hilfreicher: "Mens
sanis in corpore sane." Man darf natürlich nicht versucht
sein, es funktionalistisch, im Sinne von Ursache und Wirkung, zu deuten.
Es macht keinen Sinn, die einseitige, notwendige Abhängigkeit zu
behaupten. Das Training meines Bizeps hat nicht zwangläufig zur
Folge, dass mein Gehirn sich entsprechend effektiv zeigt. Vielmehr lockt
doch ein ganzheitliches Verständnis von Körper und Geist:
Der Körper ist Wahrnehmungsorgan und Teil des Verstandes. So könnte
man sagen, in einem wahrnehmenden (gesunden) Körper wohnt ein erkennender
(gesunder) Geist.
Es
bleibt die Frage, ob "die Californisierung' der europäischen
Städte ein letztes Aufbegehren gegen die schleichende Entkörperung'
ist."
Eine
wirkliche Entkörperung ist nicht denkbar, solange wir Menschen
sind. Und die Städte als Teil unserer artifiziellen Umwelt sind
Teil dieses Menschseins.
Wir
empfanden die Veränderung unserer Städte im letzten Jahrhundert
immer wieder als Entfremdung. Eine Zerrissenheit über diese unserer
Stadtwahrnehmung ist spürbar und will behoben werden. Allein die
Diskussion belegt, dass wir an einem Missverhältnis erkrankt sind.
Ein Verhältnis, das es gilt, neu einzustellen.
Ob
wir unsere sinnlichen Kokons durchbrechen oder perfektionieren, Unzulänglichkeiten
zulassen oder einer Alltags-Welt der vollständigen Beherrschung
bevorzugen, die Maximierung der Lust oder dem Ruf der Verletzlichkeit
folgen, ein Leben in den Augen der Anderen, an einem reinen Gewissen
oder einer perfekten Show fest machen wollen, klar ist, jede Tendenz
wird über die Gestalt der Stadt entscheiden.
Aus
einem falschen Körperverständnis resultieren viele Verhaltensweisen,
die uns und auch unsere Umwelt schädigen und nicht zuletzt, auch
die von uns selbst entworfene Welt, nämlich die Stadt, für
uns unerträglich machen. Deshalb glaube ich, wenn wir die Identität
unserer Städte wirklich suchen, werden wir unseren Körper
mit seinen Sinnen finden.
2002