Erinnerungen
an Persepolis
von Günter Schweigard
Natürlich
habe ich nun wieder Zeit, meine Vormittage - nachmittags ertüchtige
ich meinen Körper mit isometrischen Übungen - in öffentlichen
Bibliotheken zu verbringen. Zugegeben, anfangs war es ein eigenartiges
Gefühl, nicht mehr zu wissen: was ist meine Profession, zu welchen
Themen werde ich künftig befragt, wie werde ich genannt werden.
Und was machen Sie beruflich, wird man gefragt und bemerkt, während
man überlegt, ob man wahrheitsgemäß antworten soll,
an seinem Gegenüber ein ängstliches Zucken der Augenlieder,
das solange anhält, bis man antwortet - dann doch nicht gelogen,
um den Fragenden nicht zu irritieren, also offen und ehrlich: zur Zeit
bin ich arbeitslos. Das Zucken der Augenlieder löst sich sofort
wieder. Es zeigt sich ein überlegenes Lächeln, Zufriedenheit.
Der befürchteten Kränkung wurde Genugtuung verschafft. Hier
ist kein Neid angebracht, sondern Mitgefühl. Oh, das tut mir leid,
mein Lieber. Gemeint ist jedoch: mein Beileid, zu Ihrem unerwarteten
Ableben - glücklicherweise haben Sie wenigstens nicht leiden müssen,
sonst wäre Ihr Nachruf doch etwas ärmlich ausgefallen - etwa:
nach langer schwerer Krankheit ist er von uns gegangen
...
rechte Hand zur Faust
in die linke Handfläche legen
fest gegeneinander drücken
ruhig weiteratmen
noch stärker drücken
noch drei
noch zwei
noch eine Sekunde
entspannen
linke Hand zur Faust
in die rechte Handfläche legen
fest gegeneinander drücken
ruhig weiteratmen
Nein,
gestorben bin ich nicht! Weder eines natürlichen Todes, noch bin
ich getötet worden. Das Gebot des Kapitalismus: "Du sollst
nicht arbeitslos werden, denn welchen Tages Du deinen Job verlierst,
wirst Du des Todes sterben", habe ich zwar übertreten (unverschuldete
Schuld), dennoch: ich lebe - und doch ist das, was mit mir passiert
ist, weit schlimmer und unfassbarer als selbst der Tod. Ich wurde ausgewiesen
aus dem Paradies. "Ursprünglich bezeichnet das Wort Paradies,
im Altpersischen pairidaeza, einen von Mauern umschlossenen Garten",
lese ich gerade eben in einem abgegriffenen etymologischen Wörterbuch.
Keine ausschweifende Grünlandschaft also, wie der Garten Eden es
war, sondern umschlossen, Rahmen aus Gemäuer, drängend zum
Verweilen einladend. So also präsentiert sich das Paradies im Diesseits;
jedoch auch hier ist der Zugang nur für Berechtigte erlaubt - wie
etwa für mich, der ich die letzten Jahre tatsächlich dort
zugebracht habe.
Hände auf die Oberschenkel, nicht auf die Knie
fest nach unten drücken
noch fester
ruhig weiteratmen
noch drei
noch zwei
noch eine Sekunde
entspannen
Hände auf die Oberschenkel, nicht auf die Knie
fest nach unten drücken
noch fester
ruhig weiteratmen
Das
Paradies auf Erden währt erfahrungsgemäß nicht ewig.
In meinem Fall wurde die Zugehörigkeit zur Insel der Glückseligen
sehr abrupt beendet. Ich wurde niedergeschlagen. Niedergeschlagen von
einem Wachmann des privaten Sicherheitsdienstes, der das Paradies zu
bewachen hatte - umschlossen, Rahmen aus Gemäuer, für mich
zum Verweilen nicht mehr zugelassen. Genau genommen wurde ich nicht
ausgewiesen aus dem Paradies, sondern mir wurde der Zugang verweigert;
niedergeschlagen von einem Wachmann des Sicherheitsdienstes, der mir
sonst, wenn ich mich mit meinem Wagen den großen Eisentoren näherte,
zuwinkte und ohne meine ID-Card sehen zu wollen, Einlass gewährte
(offensichtliche Seelenverwandtschaft). Jeden Tag das gleiche Ritual:
kurzes verlangsamen der Fahrt (mit Automatikgetriebe völlig ruckfrei
zu bewerkstelligen), die Seitenscheibe des Wagens herunterfahren lassen
(elektrisch betrieben), vor dem Tor kurz anhalten und während der
Wachmann das Tor öffnet (elektrisch betrieben), ein "Hallo
Konstabler, alles ruhig heute, wie?", im John Wayne-Ton durch die
offene Seitenscheibe raunen, leicht das Gaspedal betätigen, anrollen
lassen (ruckfrei), um dann den erhabenen, den paradiesischen Zustand
dieses Ortes zu spüren - umschlossen, Rahmen aus Gemäuer,
drängend zum Verweilen einladend.
Hände hinter dem Nacken verschränken
Kopf leicht nach hinten legen
Hände nach vorn drücken
ruhig weiteratmen
fester
noch fester
noch drei
noch zwei
noch eine Sekunde
entspannen
Hände hinter dem Nacken verschränken
Kopf leicht nach hinten legen
Hände nach vorn drücken
ruhig weiteratmen
Das
Expose´ des Developers las sich gut damals: "Wohnen in persepolis,
der Oase in einer Welt von Lärm, Brutalität und Chaos. In
bevorzugter Lage am westlichen Stadtrand von A. wartet das Paradies
auf Sie." Von privaten Wachdiensten gesichert - umschlossen, Rahmen
aus Gemäuer, drängend zum Verweilen einladend. Die Wohlhabenden
sind unter sich. Autos der gehobenen Mittelklasse (Automatikgetriebe
und elektrische Fensterheber) in den Garagenzufahrten. Sozial und räumlich
abgekoppelt von der Armutsbevölkerung und abgekoppelt von dem Gedanken
der Solidargemeinschaft der Stadt. So wollte auch ich künftig nur
noch für Leistungen bezahlen, die ich in Anspruch nahm; ich unterwarf
mich den Gesetzen von persepolis. Ruhe, Sicherheit und vollständige
Abgeschirmtheit waren garantiert - umschlossen, Rahmen aus Gemäuer,
drängend zum Verweilen einladend. Berührungspunkte mit dem
Leben draußen gab es praktisch nicht mehr. Nach dem Passieren
der großen Eisentore mit dem Wagen ("guten Morgen Konstabler!"),
einfädeln auf den vierspurigen Straßenzubringer, langsam
beschleunigen (mit Automatikgetriebe völlig ruckfrei zu bewerkstelligen),
die Bewegungsfreiheit genießen, nur nicht anhalten müssen.
Das Risiko ist minimal - Autopannen sind selten geworden, heute. Der
öffentliche Raum rollt kulissenhaft vorbei an den geschlossenen
Seitenscheiben (Air-Conditioning), No-go-areas (Angsträume! Bitte
nicht betreten - Lebensgefahr) sind kaum mehr wahrzunehmen, die Ränder
der Gesellschaft verschwimmen in schneller Fahrt. Auf der rechten Spur
bleiben, rechtzeitig den Blinker setzen, auf die Ausfahrtsspur zum Firmengelände
einbiegen, die Fahrt verlangsamen (ruckfrei), die großen Eisentore
des Firmengeländes öffnen sich ("Hallo Konstabler, alles
ruhig heute, wie?"), den Wagen einparken und die Maschine abstellen,
um dann kurz seine Lieben zu benachrichtigen: "Bin sicher angekommen,
keinerlei Zwischenfälle! Was gibt es heute Abend zu essen? Sind
die Kinder schon zur Schule?"
Handflächen gegeneinander legen
Hände zusammenpressen
ruhig weiteratmen
fester pressen
noch fester
noch drei
noch zwei
noch eine Sekunde
entspannen
Handflächen gegeneinander legen
Hände zusammenpressen
ruhig weiteratmen
Übrigens habe ich ab sofort keine Verwendung mehr für Sie,
gab mir mein Chef zu verstehen. Die Jugend drängt nach; bessere
körperliche Verfassung; vielseitiger einsetzbar; keine überzogenen
Moralvorstellungen - wollen Sie etwa immer noch die Welt verbessern?
- trotzdem wünsche ich Ihnen alles Gute für Ihren weiteren
Lebensweg. Gemeint war jedoch: mein Beileid zu Ihrem Abstieg ins Reich
der Plebs; die Straße nimmt jeden auf - jeder ist zugelassen.
Als ich beim Verlassen des Firmengebäudes vor die Kamera trat,
meinen Namen und die Zimmernummer meines Büros stimmlos ins Mikrofon
hauchte (Das Betreten und das Verlassen ist nur durch Bild- und Stimmidentifikation
möglich), machten sich die Neuigkeiten in Bezug auf meine Person
bereits auf den Weg zu einem Wachmann des privaten Sicherheitsdienstes,
der das Paradies zu bewachen hatte. Gegen die Datenautobahn ist kein
Kraut gewachsen; die Vernetzung ist lückenlos. Ich wusste: mit
meinem Wagen konnte ich es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Die großen
Eisentore öffneten sich nicht. "Hallo Konstabler, ich will
doch nur noch meine Familie da rausholen - hey, hören Sie?"
Der Wachmann blieb stumm (keine Seelenverwandschaft); sein Schlag war
gut geführt und verfehlte seine Wirkung nicht. Das Paradies war
für mich verloren - ich taumelte - ich fiel - die Straße
nimmt jeden auf.
Finger krallenförmig verhaken
Arme waagrecht auseinander ziehen
ruhig weiteratmen
fester ziehen
noch fester
noch drei
noch zwei
noch eine Sekunde
entspannen
Finger krallenförmig verhaken
Arme waagrecht auseinander ziehen
ruhig weiteratmen
von persepolis behält sich die Kontrolle über das gesamte
Territorium, über den Einsatz privater Wachdienste, über den
Wert und die Gestaltung von Immobilien, über das Verhalten und
den Lebensstil der MitbewohnerInnen, über die Schulen der Kinder
des Quartiers über die Innen- und Außenpolitik sowie über
die Festsetzung der Steuern uneingeschränkt vor.
Artikel 3 (Gesetzestext der Privatregierung von persepolis):
Der Nachweis der geregelten Erwerbsarbeit von mindestens 50 Wochenstunden,
ist unaufgefordert von jedem Hauseigentümer wöchentlich der
Privatregierung von persepolis vorzulegen. Teilzeitbeschäftigung
jeglicher Art ist in diesem Zusammenhang ohne Belang und wird nicht
anerkannt. Kann dieser Nachweis nicht erbracht werden, ist der Hauseigentümer
unverzüglich des Territoriums von persepolis zu verweisen, bei
dessen Abwesenheit ist Ihm der Zugang zu verweigern. Angehörige
bleiben bis zum Zeitpunkt der Entrichtung einer Ablösezahlung,
deren Höhe die Privatregierung von persepolis im Einzelfall festsetzt,
in Gewahrsam. Kinder sind zu Arbeitsdiensten für die Instandhaltung
der infrastrukturellen Einrichtungen einzuteilen; Frauen haben sich,
nach eingehender Prüfung durch eine Kommission der Privatregierung
von persepolis, hinsichtlich äußerer Erscheinung sowie körperlicher
Konstitution, mehrmals wöchentlich, für den gemeinnützigen
Verein "coitus per anum persepolis" zur Verfügung zu
stellen.
Artikel 4 (Gesetzestext der Privatregierung von persepolis):
MitbewohnerInnen ist es untersagt, sich nach 22oo Uhr auf Straßen
und Plätzen von persepolis aufzuhalten. Zweimal jährlich kann
eine Ausnahmegenehmigung erteilt werden. Entsprechende Armbinden zur
Kenntlichmachung berechtigter MitbewohnerInnen sind rechtzeitig bei
der Regierung von persepolis zu beantragen. Bei Zuwiderhandlung ist
mit dem sofortigen
..
gesamten Körper anspannen
noch stärker anspannen
Widerstand im Körperschwerpunkt aufbauen
Widerstand erhöhen
schneller atmen
noch schneller
noch einen
noch zwei
noch drei Tage
ein Leben lang
entspannen
Natürlich
habe ich nun wieder Zeit meine Tage in öffentlichen Bibliotheken
zu verbringen, nachdem meine isometrischen Übungen mittlerweile
beendet sind - der Körper hält dem Geist nun wieder stand.
Ich versinke nicht in Schwermut. Solange ich täglich mein Tonikum
einnehme, habe ich das Gefühl, die Wechselfälle des Schicksals
ertragen zu können. Die Milde der Stadt A. hat sich mir wieder
offenbart, sie kennt mich noch; im Morgenlicht erscheint sie sanft -
die Straße nimmt jeden auf. Die Bibliothek der Universität
von A. ist zu meinem Refugium geworden (keine Kameraüberwachung
der Leseplätze). Hier reift mein Plan zur Befreiung der Frauen
und Kinder, die in persepolis in Gewahrsam genommen worden sind. Hier
wird die Satzung des gemeinnützigen Vereins "alexander ante
portas" ausgearbeitet, der allen Bürgern der Stadt A. den
freien Zugang zum Paradies ermöglichen will. Wir werden die Mauern
einreißen und aus dem Paradies - umschlossen, Rahmen aus Gemäuer,
drängend zum verweilen einladend - den Garten Eden machen.
Als ich beim Verlassen der Bibliothek vor die Kamera trat, meinen Namen
und die Nummer meines Leseplatzes im John Wayne-Ton ins Mikrofon raunte
(Das Betreten und das Verlassen ist nur durch Bild- und Stimmidentifikation
möglich), war ich überrascht - die großen Eisentore
öffneten sich nicht.
25.07.03